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Paderbornisierung

„Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann im Berliner Schiller Theater  ■ Von Klaus Nothnagel

Einer Frau ist vor Jahren der einzige Sohn achtjährig „einjejangen“ oder auch „mit Tod abjejangen“. Jetzt will sie wieder einen, kauft sich den Bankert des polnischen Dienstmädchens Pauline Piperkarcka, belügt Ehemann und Nachbarn, fliegt auf, bringt sich um.

Ein gutes Drama läßt sich so nicht nacherzählen. Hauptmanns Ratten sind nur dann gut, wenn Regisseur und Dramaturg rigoros das Messer ansetzen: Die „Berliner Tragikomödie“ würde bei derartiger Behandlung nicht dreieinhalb Stunden dauern (wie bei der Premiere am Mittwoch im Schiller Theater), sondern schlimmstenfalls zweieinhalb.

Regisseur Alfred Kirchner und das Dramaturgenduo Hartmut Lange/Vera Sturm haben zwar Kolportagehaftes wie die Szene zwischen dem Ex-Theaterdirektor Hassenreuter und seiner Schauspielmätresse Alice Rütterbusch ausgedünnt; gleichermaßen Ödes aber — wie die 1911 vielleicht noch „skandalöse“ Lebensbeichte der moralisch verkommenen Nachbarin Sidonie Knobbe — wird breit und quärkern ausgemimt.

„Was könnte Sabine Sinjen mal wieder Nettes spielen? Haben wir nicht mal was Abgründiges für Katja Riemann? Angelica Domröse muß endlich wieder eine Riesen-Hauptrolle kriegen!“ — Das könnten die Ideen für diese Ratten-Produktion gewesen sein. Keine innere Notwendigkeit, gerade jetzt gerade das zu spielen (obwohl Aktualität auf der Hand läge); keine eigenständige, emotionalisierende Geschichte, die Regisseur Kirchner mit dem Stück zu erzählen wüßte; keine einleuchtenden bildnerischen Einfälle des Gerümplers Vincent Callara (Bühne und Kostüme — immerhin wurde in Windeseile umgebaut!).

Angelica Domröse als Mutter John berlinert, wie sich's gehört. Lärmt. Ackert. Powert. Mehr nicht. Guntbert Warns, wahrhaftig ein fabelhafter Schauspieler, proletet den Maurerpolier John routiniert daher, hat sich außerdem von seinen Haaren nicht trennen können und trägt einen stark unmaurerhaften Zopf. Erich Schellow als alter Theatermann Hassenreuter ölt gekonnt und hat sonst nichts zu bieten. Heike Balzer (als seine Gattin) legt eine sonderbare Keuch- und Japs-Gestalt hin, die immerhin klare Spuren von Gestaltung erkennen läßt. Gunda Aurich (Pauline Piperkarcka) zetert, was das Stimmchen hergibt. Wolfgang Pregler ist ein äußerst ungemütlicher und zeitweise durchaus beklemmender krimineller Mutter-John-Bruder Bruno Mechelke. Alle spielen, wie sie können. Jeder hat seine starken Momente. Das Ensemble ist deutlich unterfordert. Nicht auszudenken, was diese Truppe in Anwesenheit eines Regisseurs zuwege brächte!

Der einzige unauslöschliche Eindruck dieses stark provinziellen, paderbornisierenden Abends: Michael Maertens als Kandidat der Theologie (und Möchtegern-Schauspieler) Erich Spitta. Ein spirrliger, unbeholfen herumknickernder Kerl, dünn, verlegen, ewig ein Angstgrinsen im Gesicht. Wenn er seine Geliebte (die Tochter von Theaterfex Hassenreuter) umarmt, sieht man in einem sekundenkurzen Bild die ganze Tragödie eines ungeschickten Hansels, der den Draht zum Leben und Lieben sucht — ohne zu wissen wie. Michael Maertens scheint, nach den Räubern, der bis auf ihn gräßlichen Minna von Barnhelm und den Ratten zu urteilen, ein Schauspieler von unbegrenzten Möglichkeiten zu sein. Er wird nicht lange auf dem sinkenden Schiff der Staatlichen Bühnen Berlins bleiben. Wünschen wir's ihm. Es lohnt nicht mehr, mitten im neuen Berlin mit Riesenetat schamlos Paderborn zu spielen.

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