Balanceakt auf Chinas kleiner Insel

Heute wird in Taiwan gewählt/ Dominierendes Wahlkampfthema ist die Aufgabe des Alleinvertretungsanspruches für Gesamtchina und die formelle Unabhängigkeit der Insel  ■ Aus Taipeh Luisetta Mudie

Ein Referendum für die Unabhängigkeit: Dies ist die gängige Deutung der ersten allgemeinen Parlamentswahlen, die heute in Taiwan stattfinden. Nur das Parlament darf in Taiwan die Verfassung ändern, und erst jetzt haben die regierenden chinesischen Nationalisten — die „Kuomintang“ (KMT) von Staatspräsident Lee Teng-Hui — ihre automatische Mehrheit verloren.

Die Forderung nach einer formellen Unabhängigkeit Taiwans, das sich immer noch unter dem Namen „Republik China“ als Rechtsnachfolgerin Gesamtchinas versteht, steht seit Oktober im Wahlprogramm der wichtigsten Oppositionspartei „Demokratische Fortschrittspartei“ (DPP). Eigentlich ist solch eine Forderung verboten. Die KMT nannte den Schritt der DPP einen „unverantwortlichen Akt, der die Sicherheit der Nation und das Wohlergehen des Volkes außer acht läßt“.

Die Kuomintang regiert in Taiwan seit 1949, als sie den Bürgerkrieg mit Chinas Kommunisten verlor und sich auf die kleine Insel rettete. Sowohl die KMT-Regierung Taiwans wie auch die Volksrepublik China verstehen sich als Alleinvertreter Chinas und sind gegen Bestrebungen, Taiwan zu einem formell selbständigen Staat zu machen. Auf der Insel selbst gilt diese Bestrebung juristisch als Volksverhetzung und wird mit langen Haftstrafen belegt. Die chinesische Regierung in Peking hat ihrerseits den Einsatz von Gewalt für den Fall einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung Taiwans nicht ausgeschlossen. Eine kürzlich ausgesprochene Drohung: „Die mit Feuer spielen, werden zu Asche verbrannt.“

Zensur von Wahlspots der Opposition

Der Wahlkampf in Taiwan begann damit, daß die DPP sich über angebliche Benachteiligung durch die regierungskontrollierten Medien beschwerte. Diese hatten alle nach der Unabhängigkeitsforderung riechenden Stellen aus DPP-Wahlspots und Wahlanzeigen wegzensiert. Einer der internationalen Wahlbeobachter, US-Professor Michael Reisman, sagte, die Fairneß der Wahlen sei anzuzweifeln, sollte die Zensur der Bevölkerung Ansichten der DPP vorenthalten haben. Beide Parteien haben sich überdies Korruption und Gewalt vorgeworfen.

Trotz dieser Probleme sind die Wahlen ein wichtiger Schritt der Demokratisierung. Das alte Kuomintang-Dogma der „Wiedergewinnung des Festlandes“ und „Zurückwerfung des Kommunismus“ — also Rückeroberung der Volksrepublik China — gehört der Vergangenheit an. Taipeh nennt die Regierung in Peking nicht mehr „Rebellen“ oder „Usurpatoren“ wie früher. Es erkennt die chinesische Regierung immerhin als politisches Gebilde an, wenn auch nicht als legitime Regierung, und hofft auf baldige Gegenseitigkeit in dieser Frage.

Insbesondere die gebildeten und wohlhabenden Teile der Bevölkerung Taiwans sehnen sich, so Beobachter, nach internationaler Anerkennung. Schließlich ist Taiwan die 13. Handelsnation der Welt. Taiwans Versuche, diplomatisch in der Weltgemeinschaft voranzukommen, werden zumeist von China blockiert. Dies könnte aber der Unabhängigkeitsbestrebung auf Taiwan zugutekommen, die von der jüngeren Generation ohne Verbindungen zum chinesischen Festland getragen wird.

Die DPP besteht auf einer Unabhängigkeitserklärung und einer neuen Verfassung einer neuen „Republik Taiwan“. Wenn, so die Oppositionspartei, Taiwan erst seinen Alleinvertretungsanspruch über Gesamtchina aufgibt, zusammen mit dem Namen „Republik China“, können die Staaten, die bisher nur die Volksrepublik China anerkennen — also fast alle Länder der Welt — auch mit Taiwan diplomatische Beziehungen aufnehmen.

„Die KMT ist den Leuten vertraut“, meint dagegen Professor Chang King-Yu, Präsident der Nationaluniversität von Chengchi. Die Taiwanesen, meint er, werden sich letzlich für Stabilität entscheiden, auch wenn die KMT ihre Nachteile hat. „Das gewalttätige Auftreten einiger DPP-Anhänger und die fehlende Regierungserfahrung dieser Partei macht den Leuten Sorge. Und sie werden nicht für etwas stimmen, was gefährlich werden könnte.“

Peking als Wahlhelfer der herrschenden Kuomintang

Ausgerechnet Peking ist überdies zu einem Wahlhelfer der KMT geworden, indem es mitten im Wahlkampf erstmals einen Verband ins Leben rief, der unterhalb der offiziellen Ebene Kontakte zwischen beiden Staaten vermitteln soll. China hat ein Interesse daran, die DPP von der Macht fernzuhalten. Doch wenn die KMT ihre extreme Sensibilität gegenüber jedem Schritt Pekings beibehält, riskiert sie wiederum die Kritik, daß sie sich wie eine „Kommunalbehörde“ aufführt.

Wenn die KMT heute mehr als 75 Prozent aller Sitze behält, kann dies als Mandat für den Status quo gelten. Doch wenn die DPP ihr Wahlziel von 30 Prozent überschreitet, wird die Unabhängigkeitsbewegung auf der Insel gestärkt und der Balanceakt der KMT-Regierung erschwert.