DIE ALTE ERDE
: Bonsai-Raumschiff Erde

Grundlagenforschung für Ökologie und Recycling auf der Erde und Prototyp für eine Besiedelung des Alls: das sind die Ziele des Experiments „Biosphere 2“, einem Nachbau des Ökosystems der Erde in einem riesigen Glashaus. Acht „Bionauten“ haben sich mit 3.800 Pflanzen- und Tierarten für zwei Jahre eingeschlossen. Aber werden sie so lange durchhalten? Schneller als erwartet steigen die CO2-Werte an, vielleicht ein Vorgeschmack auf den Treibhauseffekt der Erde. – Ein Besuch in dem Miniplaneten unter Gla in Azona  ■ VON MATHIAS
BRÖCKERS

Wie beim Start eines Raumschiffs üblich, wurde auch bei „Bio2“ der Starttermin mehrfach verschoben. Im September 1990 und noch einmal im darauffolgenden Dezember mußte der Countdown abgebrochen werden, am 26. September 1991 war es dann soweit: Am Rande der Sonora-Wüste im Süden Arizonas schlossen sich die luftdichten Türen hinter den acht Besatzungsmitgliedern, und der Start konnte erfolgen. Zu einer zweijährigen Expedition, von der sich die acht Bionauten und die beteiligten Wissenschaftler Großes versprechen: die Erforschung unbekannter biologischer Bereiche, neue Erkenntnisse über rätselhafte Zusammenhänge in der Natur sowie die Erprobung regenerativer Technologien.

Daß Bio 2 beim Start nicht vom Boden abhebt, ist ganz im Sinne seiner Erfinder. Bei einer Grundfläche von 13.000 Quadratmetern und über zwei Millionen Kubikmetern umbautem Raum wäre es auch gar zu vermessen, in Richtung Weltraum abheben zu wollen – das „Raumschiff“ ist ein Glasdom von der Größe eines Flugzeughangars, und es bleibt eben da, wo sein eigentliches Forschungsgebiet liegt: auf der Erde. Daß dieser Expedition dennoch etwas von dem Pioniergeist der ersten Mondlandung anhaftet, hat mit dem besonderen Charakter des Glashauses zu tun; es enthält neben den verschiedenen Klimazonen, die das ökologische System der Erde bestimmen, 3.800 Spezies von Pflanzen und Tieren, die, luftdicht von der Außenwelt abgeschlossen, in einem selbstregulierenden Energiekreislauf leben. Biosphere 2 ist die zweitgrößte abgeschlossene Biosphäre des bekannten Universums, eine Bonsai-Version ihres Vorbilds, der „Biosphäre 1“ – unserer Erde.

Unter seinem Glasdach beherbergt dieser Planet in der Flasche einen tropischen Regenwald auf der einen und eine Steppenwüste auf der anderen Seite, mit einem ozeanumspülten Korallenriff samt malerischem Sandstrand sowie Sumpf- und Marschland in der Mitte. Kolibris sorgen hier für die Befruchtung der Pflanzen, Fruchtfliegen und Insekten sollen verrottete Früchte fressen, um Vögel und Eidechsen zu ernähren, menschliche Abfälle nähren Algen, Bakterien und Wasserpflanzen, die wiederum von Fischen verzehrt werden. Eine weitere Zone wird als Anbaufläche für die Intensivlandwirtschaft genutzt und dient als Gehege für Ziegen und Hühner, und darüber liegen die Räume für die Spezies, die von dem Ertrag dieses Raumschiffs Erde zwei Jahre lang leben soll: die Menschen. Alles, was sie in diesen zwei Jahren atmen, essen und trinken, wird hundertprozentig recycelt – der ökologische Kreislauf von Bio 2 wird von der Außenwelt völlig abgeschlossen sein.

Am Rande der Sonora-Wüste, wo außer dem Wahrzeichen Arizonas, haushohen Orgelpfeifen-Kakteen, kaum etwas wächst, ragen die dunklen Felsen der Catalina Mountains auf. Panorama für unzählige Westernfilme, die hier gedreht wurden. Doch der Wildwest-Nostalgie erwächst Konkurrenz aus dem 21. Jahrhundert. Auch wenn die ausgelatschte Sandpiste, die nördlich von Tucson vom Highway 77 abbiegt, noch eher an Ben Cartwright als an Mister Spock erinnert – nach dem Umkurven einiger Hügel geht sie in ein Science-fiction-Szenario über: der langgestreckte Glasdom der Biosphere 2 liegt da, als sei in dem kargen Tal am Fuß der Schwarzen Berge das Raumschiff Enterprise gelandet. Und tatsächlich findet hier ein Test statt, der an den Futurismus des Startrek erinnert, auch wenn er erdgebundener kaum sein könnte: die Untersuchung der Frage, wie Grünpflanzen menschliche Abfälle (Verdautes und Kohlendioxid) aufnehmen und sie in Sauerstoff, Wasser und Nahrung verwandeln können – in einem geschlossenen, sich selbst regulierenden System.

Unter einem fünfundzwanzig Meter hohen pyramidenförmigem Glasdach hat Ghillean Prance, Direktor des Botanischen Gartens New York und einer der zahlreichen Consultants des Projekts, seinen Regenwald „gebaut“. Mit hohen Bäumen, einem Miniaturgebirge mit einem „Wolkenwald“ auf der Spitze und etwa dreihundert Spezies, die in vier Unterabteilungen leben. An diesem, dem amazonischen Dschungel nachempfundenen, Regenwald schließen sich vier weitere, „Biome“ genannte, Zonen an: die tropische Savanne, die Graslandelemente aus Afrika, Australien und Südamerika kombiniert und neben grasenden Kleintieren auch Insekten und Termiten beheimatet. Nur durch eine Klippe getrennt vom Ozean, dessen 7,8 Millionen Liter Wasser ein karibisches Korallenriff umspülen. Eintausend verschiedene Pflanzen- und Tierarten leben in diesem Meer, das mit seinem halben Meter Tiefenunterschied von einer aufwendigen Apparatur in Wellengang gehalten wird. Nur wenige Schritte davon entfernt, Biom Nr. 4 mit einer den Everglades nachempfundenen Sumpfstruktur, die in fünfzig Truck-Ladungen von Florida angekarrt wurde. Das fünfte Biom ähnelt der „Nebelwüste“, der Baja California, eine Wüste mit hoher Luftfeuchtigkeit, die im Winter, wenn die anderen Klimazonen untätig sind, blühen soll.

Diese fünf Wildniszonen sind die Voraussetzung, um die zwei entscheidenden Abteilungen des Treibhauses stabil zu halten: die Zone der Intensiv-Agrikultur, wo in Rotation einhundertfünfzig verschiedene Gemüse und Früchte angebaut werden, sowie der Wohnbereich, wo acht Appartments sowie die Forschungsräume und der Gymnastikkeller stets mit frischem Sauerstoff versorgt werden müssen. Um dies sicherzustellen, ist die High-Tech-Arche mit 3.500 Sensoren bestückt, die den Zentralcomputer permanent mit Daten füttern. Atmosphärische Werte, Luftzusammensetzung und Wasserkonsistenz werden im Minutenabstand gemessen und ausgewertet. Eine „Künstliche Intelligenz“-Software wurde verwandt, um mit einem sensiblen „Nervensystem“ alle Vorgänge aufzuzeichnen, sowie Motoren, Pumpen und so weiter permanent zu überprüfen.

Die Idee zum Bau einer großen Biosphäre wurde Ende der siebziger Jahre in der Londoner Avantgarde-Ideenschmiede „Institute of Ecotechnics“ entwickelt. Wie „Space Biosphere Ventures“ (SBV), dem Betreiber der Wüsten-Arche in Arizona, ist das „Institute of Ecotechnics“, was die Finanzen betrifft, vor allem mit einem Namen verknüpft: Edward P. Bass, einer von vier Brüdern, denen das Milliardenerbe ihres Onkels, des Ölbarons Sid Richardson, zufiel. Die Bass-Brüder aus Fort-Worth (Texas) werden unter den fünf reichsten Familien der Vereinigten Staaten geführt, wobei Edward (45) seit seiner Hippiezeit als der Familien-Exzentriker gilt. Er verbrachte lange Zeit in Kommunen und finanzierte mit aus seinem jährlich um 100 Millionen Dollar wachsenden Vermögen die Aktivitäten des Instituts. Auch der Bau der Biosphere 2 wurde durch einen 30-Millionen- Dollar-Scheck des Öko-Ölmagnaten ermöglicht. Trotz dieses Langzeitinvestors im Hintergrund versteht sich „Space Biosphere Ventures“ als „Pro-profit“-Unternehmen. Die 150 Millionen Dollar, die das gesamte Projekt kosten wird, sollen wieder hereinkommen. Allein mit Besuchern und Gästen im angeschlossenen Tagungszentrum wird das nicht gehen, obwohl Biosphere 2 mit bis zu zweitausend Besuchern pro Woche schon während der Bauphase gute Chancen hat, zu einer Art Öko-Disneyland zu werden. Gewinne erwartet SBV durch Patentierung und Verkauf neuer Pflanzensorten, von einem schon patentierten System der Luft- und Wasserreinigung in geschlossenen Systemen und vom Verkauf kleinerer Modelle der Glashaus-Biosphäre. Sowie von Anschlußaufträgen durch die NASA: zur Entwicklung eines sich selbst versorgenden Weltraum-Habitats oder einer Biosphäre auf dem Planeten Mars. Dem Biosphere-Projekt selbst brachte die NASA bisher zwar viel Neugier und Interesse, doch keinerlei finanzielle Zuwendungen entgegen – der Ansatz scheint einfach zu verschieden. Denn Noahs Nachfolgern in der Arizona-Wüste geht es nicht um isolierte künstliche Ökotope, in denen irgendeine Pflanze leben kann, sondern um eine ganzheitliche Biosphäre, in der durch Kooperation möglichst vieler Ökotope Evolution möglich wird. Die Totalität dieses Ansatzes ist es denn auch, weswegen einige Wissenschaftler das Projekt sehr skeptisch betrachten: Das System, so die Kritik, berge viel zu viele ungeprüfte Variablen und zuviel öko-romantisches Vertrauen in die Fähigkeiten natürlicher Selbstregulierung. Der Biochemiker David Stumpf stieg 1988 aus dem Projekt aus, weil seine Kritik nicht gehört wurde. Ihm waren Zweifel daran gekommen, ob sich die acht Forscher von den 7.000 Quadratmetern Anbaufläche wirklich ernähren können und ob das Recycling der Luft durch Erde und Pflanzen bei steigenden CO2-Werten ausreicht. Dennoch wünschte er den Biospherianern alles Gute: „Ihre Prämisse scheint zu sein: ,Alles wird ganz wunderbar werden', und gegen diesen Ansatz“, meint Stumpf, „habe ich eigentlich nichts einzuwenden. Die NASA würde keine 30 Millionen geben und sagen: ,Geh nach Tucson, bau so ein Ding, probiere, bring es zum Laufen.' Lockheed würde so etwas nicht tun und auch nicht das Pentagon. Deshalb: Mehr Power für sie.“

Die werden die acht Bionauten jetzt auch dringend brauchen, denn schon zwei Monate nach Versiegelung ihres Bio-Paradieses ist eingetreten, was David Stumpf befürchtete: Die CO2-Werte in Bio 2 steigen stark an, im Treibhaus herrscht der Treibhauseffekt. 2.000 ppm (Teile pro Million) betrug der CO2- Gehalt der Luft Ende November und war damit schon fast sechsmal so hoch wie in der natürlichen Lufthülle. Zwar herrscht in den Raumschiffen der NASA mit einem durchschnittlichen CO2-Gehalt von 5.000 ppm noch viel dickere Luft, die Biospherianer müssen akute Atemnot so schnell noch nicht befürchten, wenn aber der Ozean umkippt und Flora und Fauna auf die dicke Luft reagieren, könnten sie zu den ersten wirklichen Flüchtlingen des Treibhauseffekts werden. Haben sie die Recyclingfähigkeiten der Pflanzen, die für den Sauerstoff sorgen sollen, überschätzt? Ein hartnäckiger Rechercheur des New Yorker Magazins 'Village Voice' jedenfalls brachte heraus, daß kurz vor dem Start des Versuchs noch eine Maschine mit an Bord genommen wurde, die überreichlichen Kohlenstoff aufbereiten soll. Skeptiker befürchten bereits, daß trotz dieses doppelten Bodens und der stillschweigenden Verabschiedung des 100-Prozent-Recycling-Prinzips, das Experiment vorzeitig abgebrochen werden muß. Wenn Biosphere 2 die acht Wissenschaftler tatsächlich für zwei Jahre am Leben erhält, so der Captain der Bio-Crew, Mark Nelson, vor dem Start, sei die „Hochzeit von Biologie und Technologie“ perfekt. Und wenn nicht? Für John Allen, Mitgründer des Instituts, Forschungsdirektor von „Space Biosphere Ventures“ und intellektueller Kopf des Unternehmens, scheint selbst das kein Grund zur Panik. „Biosphären“, sagt er, „können als wissenschaftliches Werkzeug dienen, um an den Grundlagen der Ökologie genauso zu arbeiten wie die Teilchenbeschleuniger, die die Welt der kleinsten Teilchen eröffnet.“ Tatsächlich ließe es eine funktionierende Biosphere 2 zu, quasi im Zeitraffer zu beobachten, was wegen der Größe von Biosphäre 1 auf der Erde kaum beobachtbar ist: Nur alle dreihundert Jahre wälzt sie das Kohlendioxid der Lufthülle einmal um, zwei Millionen Jahre dauert es, bis sämtliches Wasser einen kompletten Kreislauf durchlaufen hat. Doch von der Graswurzel-Forschung geht es, wie in diesem Projekt notorisch, geradwegs zur Science-fiction. John Allen: „Einige Leute glauben, daß die Evolutionsrate sich beschleunigt. Wenn es zum Beispiel 30.000 Jahre dauert, bis eine neue Spezies ins Leben kommt, wie wäre es, das in einem 100-Jahre-Experiment auszuprobieren?“

Es wäre die ganzheitliche Alternative zu frankensteinartigen Genlabors: statt Mr. Hyde zusammenzubauen, läßt man Dr. Jekyll natürlich wachsen – in einer künstlichen Biosphäre. Ein selbstreguliertes Treibhaus als Siedlung auf dem Mars, wie es Allen in einem seiner Bücher als Fernziel ausgeführt hat, nimmt sich gegen diese Perspektive noch ziemlich naheliegend aus.

Die hochtechnisierte Art, in der Noahs Nachfahren an das Problem Arche herangehen, läßt strenge Ökologen erschaudern – mit soviel High-Tech hatten sie sich das Bio-Paradies auf Erden nun doch nicht vorgestellt –, straighte Techniker und Ingenieure hingegen packt das Grauen vor diesen „Öko-Mystikern“, die an Kraft durch Artenvielfalt, Humboldtsche All-Beseelung und das Selbstheilungsprinzip der Erde glauben. Doch vielleicht ist es gerade diese Mischung, die Erfolg verspricht – selbst wenn die Bionauten ihren Miniplaneten vorzeitig verlassen müssen. Der Versuch in diesem überdimensionalen Teströhrchen hätte dann immerhin gezeigt, daß der Treibhauseffekt sehr viel schneller und unbarmherziger zuschlägt, als es uns Bewohnern von Biosphäre 1 lieb sein kann.

Mathias Bröckers ist Redakteur der taz.