: Lokales Wissen nutzen
■ Kenichi Fukui, japanischer Nobelpreisträger für Chemie
Toshiki Kaifu: Bis jetzt waren Wissenschaft und Technologie von der Vorstellung geleitet, es gebe für sie keine Grenze. Diese Vorstellung ist heute erschüttert. In welche Richtung sollten sie sich nach Ihrer Meinung jetzt orientieren? Oder meinen Sie, daß es möglich ist, ihre Widersprüche zu überwinden und ihnen neue, unbegrenzte Entwicklungsperspektiven zu geben?
Fukui: Der Mensch verfügt wie alle anderen Organismen auf diesem Planeten über die Fähigkeit, schnell und sensibel auf Veränderungen in seiner Umgebung zu reagieren. Das Gefühl der Entfremdung, das die Menschen angesichts der schnellen Entwicklung der Wissenschaft und Technologie in diesem Jahrhundert empfinden, und das Gefühl des Unbehagens, mit dem die Menschen den unaufhörlichen Strom neuer wissenschaftlicher Produkte betrachten, sind Ausdruck eben dieser Reaktionsfähigkeit. Die Wissenschaft kann die Mechanismen der Reaktion noch nicht richtig erklären; aber die biologische Fähigkeit des Menschen zur Anpassung an seine Umwelt zeigt sich in der jüngsten Zunahme des Interesses und der Sorge über globale Umweltprobleme.
Jacques Delors: Halten Sie es für möglich, daß weltweit ethische Regeln durchsetzbar sind, die es ermöglichen, die Anwendung wissenschaftlicher Entdeckungen besser zu regeln? Akzeptieren Sie als Wissenschaftler die Unterordnung der Wissenschaft unter die Ethik?
Fukui: Der vorindustrielle Mensch konnte nicht voraussehen, daß die Wissenschaft, die vom Glauben an ihren gesellschaftlichen Wert geprägt war, eine unheilige Allianz mit der Technologie eingehen würde. Der gemeinsame Einfluß lag darin, uns die Beschränktheit unserer Erde bewußt zu machen. Gleichzeitig hat uns der wissenschaftliche Fortschritt gelehrt, wie heikel und zerbrechlich, wie besonders, einzigartig und unersetzbar die Natur ihrem ganzen Wesen nach ist. Unglücklicherweise besitzen Menschen keinerlei ererbte Verbotsmechanismen, die automatisch unsere Wünsche nach mehr Produkten zügeln, sobald wir den Sättigunspunkt erreicht haben. Nichtsdestoweniger können wir dennoch die Beschränktheit und Besonderheit der Erde und der Natur wahrnehmen und auf sie reagieren. Der Weg der Menschheit, sich gegen die Fehlentwicklungen zu verteidigen, liegt also darin, diese natürliche Anpassungsfähigkeit zum Tragen zu bringen.
Abdou Diouf: In Afrika haben sich im Lauf der Jahrhunderte nützliche Kenntnisse angesammelt, die heute in der wissenschaftlichen Forschung und Technologie nicht berücksichtigt werden. Wird es nicht endlich Zeit, ein großes, multidisziplinäres Laboratorium zu errichten, in dem das wissenschaftliche Erbe Afrikas entschlüsselt und bewertet wird?
Fukui: Wissenschaft in ihrer frühen Form bestand aus einer Disziplin, die als „Naturgeschichte“ bekannt war, in der die Menschen die Natur beobachteten, wie sie war, und aufzeichneten, was sie beobachteten. Darüber hinaus wurde in Reaktion auf die ständig zunehmende Vielfalt und Komplexität wissenschaftlichen Wissens eine Methodologie entwickelt, um dieses Wissen so gut als möglich einem verallgemeinerten Verständnis natürlicher Phänomene dienstbar zu machen.
Diese Methodologie bestand darin, das Untersuchungsobjekt in seine elementaren Bestandteile zu zerlegen und die Eigenschaften zu untersuchen, die diesen Elementen gemeinsam waren, und dann die Elemente wieder zu konsolidieren, um so die Eigenschaften des Objekts als eines integralen Ganzen zu erkennen. Diese Methode des „Teilens und Vereinigens“ ist in ihrer Integrationsphase jedoch von logischen Mitteln wie der Mathematik abhängig – und es gibt zahlreiche und verschiedenartige Themen, die sich durch die Methoden des „Teilens und Vereinigens“ nicht zufriedenstellend behandeln lassen. Gleichgültig, wie weit man eine Zelle aufteilt, ist ein gültiges Verständnis des Gesamtorganismus mittels dieser Methoden wahrscheinlich niemals erreichbar.
Der Mensch ist ein Organismus mit verschiedenen Funktionen, aber wir beginnen erst, diese Funktionen wirklich zu verstehen; das gilt besonders für den Erwerb und die Integration von Erfahrung, das Funktionieren der Intuition und so weiter.
Nicht nur in Afrika, sondern in allen Teilen der Welt gibt es einen riesigen Schatz an Erfahrung und Wissen, der nicht allgemein bekannt ist. Insbesondere das Wissen der Pflanzen und Tiere hat noch nicht einmal ansatzweise in unserem gegenwärtigen wissenschaftlichen Kenntnisstand Platz gefunden. Die Weitergabe und Nutzung dieses Wissens ist weitgehend zum Nutzen des Menschen, und wir können erwarten, daß seine Ergebnisse früher oder später in den Hauptstrom der Wissenschaft eingehen. Glücklicherweise hat es den Anschein, als sei die Zeit bald reif, daß finanzielle Mittel, die bisher nutzlos in die Rüstung gesteckt wurden, auf Ziele umgelenkt werden, die der Menschheit dienen.
Kenichi Fukui wurde 1951 Professor für physikalische Chemie an der Universität von Kyoto. 1981 erhielt er den Chemienobelpreis für seine Theorie zur Erklärung chemischer Reaktionsabläufe. Er leitet heute das Kyotoer Institute of Technology.
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