: NEU IM ATLANTIS: Rhapsodie im August
August 1990 in der Nähe von Nagasaki. Großmutter Kane hat ihre vier Enkel zu Besuch. Deren Eltern sind auf Hawaii, um den dorthin ausgewanderten Bruder von Kane zu besuchen. Die kleine tapsige Frau mit der auffälligen Glatze ist noch sehr mit den alten Traditionen der Landbevölkerung verhaftet. Ihre Kleidung, ihre Ernährung und ganz besonders ihre Einstellung zu Harmonie und Leidensfähigkeit haben so gar nichts mit der modernen Gesellschaft Japans zu tun, die von den Jugendlichen repräsentiert wird. Diese tragen amerikanische T-Shirts, essen vorzugsweise mit Löffeln und nicht mit Stäbchen und halten schon gar nichts vom meditativen Schweigen ihrer Großmutter. Für sie ist die alte Frau kauzig und vergeßlich.
Diesen Ausgangspunkt benutzt Regisseur Akira Kurosawa zu einer eindringlichen Abrechnung mit der jüngeren japanischen Geschichte. Doch diese Geschichte geht uns alle an. In gefühlvollen Bildern streift die Kamera zunächst durch die großzügigen Räume des Landhauses, über den Garten, Blumen und Bäume. Die zögerliche Frau lebt scheinbar im Vergessen, sie erinnert sich nicht einmal an ihren Bruder. Die Kamera zeichnet das Konglomerat von Verdrängung, Geschichtsbewußtsein und alltäglichem Leben behutsam nach. Es dauert eine Weile, bis die Kinder merken, und damit das Kinopublikum auch, daß die alte Kane an einer schweren Bürde schleppt. Dem Abwurf der Atombombe auf Nagasaki am 9.8. 1945 um 11 Uhr 02.
Kurosawa hat keinen Film über die Bombe gemacht und auch nicht über die Katastrophe selbst. Der Regisseur beschreibt mit der Kraft der Bilder, wie Individuen mit mit den Auswirkungen der Katastrophe umgehen. Kanes Mann, ein Lehrer, wurde in Nagasaki auf dem Schulhof atomisiert, wo heute ein geschmolzenes Klettergerüst vom Ereignis kündet. Wie ein Baum im Wind steht es da und läßt doch nicht ahnen, was sich damals abspielte. Den aufwühlenden Szenen setzt der Regisseur aber immer wieder ausgleichende symbolistische Bilder von Wäldern und Wiesen entgegen, vom beredtsamen Schweigen alter Menschen und ihrem Stolz.
Kurosawa hat keinen Monumentalfilm gedreht und er schwelgt nicht einmal in Bildern. Wie bei einem Gemälde sind es die feinen Pinselstriche, die das Auge fesseln. Für das Ohr gibt es kein Äquivalent. Die deutsche Synchronisation ist klotzig und dem Japanischen nicht angemessen. Doch dafür kann Kurosawa nichts. Sein filmisches Gedicht, die Rhapsodie, sollte im Original mit Untertiteln laufen. J.F.Sebastian
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