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Moskaus Einstieg in die Marktwirtschaft

Noch gibt es nichts „umzupreisen“, weil die Waren fehlen/ Brot, Salz und Karotten waren zu finden — aber drei- bis viermal so teuer wie im letzten Jahr/ Besonders alte Leute reagieren mit Wut und Verzweiflung  ■ Aus Moskau K. H. Donath

„Mensch, nimm die Hand da weg!“ meint der Kunde zum Fleischer. Der thront lässig vor einer Wurstgardine und hält mit seiner fleischigen Linken das Preisschild zu: „Na — starke Nerven?“ So karikiert die 'Komsomolskaja Prawda‘ Moskaus Einstieg in die Marktwirtschaft. Für Rußland und seine Bevölkerung geht es jetzt wirklich um die Wurst. In der Kaufhalle nicht weit vom Leningradskij Prospekt, noch in Zentrumsnähe, schleichen nur wenige Käufer durch den Laden.

Trotz Preisfreigabe haben sich die Regale nicht gefüllt. Als am 1. Januar die Verkäuferinnen zum „Neuauspreisen“ eine Sonderschicht schieben mußten, taten sie das Übliche. Sie saßen da und warteten auf das Schichtende. Denn die Lieferanten hatten es nicht eilig. Die meisten Fabriken und Hersteller hielten in den Wochen vor der Preisliberalisierung ihre Waren zurück und warten auch jetzt noch ab.

Nur dunkles Brot war im Angebot, das Kilo für 1 Rubel und 92 Kopeken. Der Preis hat sich verdreifacht. Und Wurst gab es eben, Marke „Odessa“. „88 Rubel und 88 Kopeken“ stöhnte ein älterer Mann vor der Vitrine, in der wenigstens etwas lag.

Hohe Preise sind den Menschen allerdings nicht ganz fremd. In der letzten Zeit haben staatliche Geschäfte häufig einige Quadratmeter an Privatpersonen vermietet „Kommertscheskij Magasin“ (Kommerzielles Geschäft) steht über diesen Abteilungen. Hier konnte man schon immer einiges mehr zu deftigen Preisen erstehen. Gerade für ältere Leute und Arbeiter galten diese „Bisnessmen“ als Spekulanten und Krisengewinnler. Demnächst werden sich die Preise in den Staatsläden nur geringfügig von den anderen unterscheiden. Das Wenige, was auf den Regalen ins neue Jahr hinüberdauerte — Salz, einige Konserven und ein paar Karotten — ist jetzt dreimal so teuer. Ansonsten sind die Verkäuferinnen aber ratlos. Noch wissen sie nicht, wieviel die Produzenten verlangen werden. Nach dem Gesetz darf der Einzelhandel den Herstellungspreis um nicht mehr als 25 Prozent übersteigen.

Vor einer dieser Kommerzabteilungen in einem Moskauer Vorort drängt sich eine Masse Leute. Spaghetti sind im Angebot, Wodka mit einem Alkoholgehalt von 96 Prozent, Champagner und andere Spirituosen. Der Inhaber, feist und cool, als wäre er die Schöpfung eines böswilligen Karikaturisten, sitzt vor einer offenen Schublade und zählt seine Einnahmen. 350 Rubel packt eine Frau auf den Tresen für drei Flaschen Schnaps und zwei Kilo Teigware. Das dürfte das Anderthalbfache der Rente sein, die die alte Frau neben ihr bezieht. Für die gesalzene Butter, eine Seltenheit seit langem, kann sich keiner so recht begeistern. Sie geht für 96 Rubel pro Kilo weg. Nur die Eier, das Zehnerpack für 12 Rubel, sind noch erschwinglich. Hier zögern die Leute weniger. Auf dem Kolchosmarkt kosten sie immerhin noch das Doppelte.

Hauptsächlich die Rentner leiden. Die Moskauer Telefonseelsorge berichtete, in den letzten Tagen hätten so viele alte Menschen um Rat gefragt wie noch nie. Sie, die sonst eher verschlossen sind. Bei allen drehte es sich um Existenzangst.

Im Bezirk Kunzewo zeigen sich andererseits erste Ansätze einer „Preiskorrektur“. „Wir mußten runtergehen,“ meinte die Angestellte, „keiner hätte das Zeug sonst gekauft.“

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