: „Bewältigung“ auf bulgarisch
Zukunftsangst — stärkster Verbündeter der alten Machthaber/ Die Komödie des Schiwkow-Prozesses/ Blinde Hühner auf der Jagd nach Hühnerdieben/ Erst jetzt beginnt die „Abrechnung“ ■ Aus Sofia Ralf Petrov
„45 Jahre sind genug“, lautete der Wahlkampfslogan der bulgarischen antikommunistischen Opposition, und er brachte die Stimmung des Großteils der Bevölkerung auf einen Nenner. Dennoch mußten ganze zwei Jahre vergehen, bis sich dieser Gedanke auch real in der Politik durchsetzen konnte. Wie heikel weiterhin die Lage ist, verdeutlichten die Parlamentswahlen am 13.Oktober, bei denen die Ex-Kommunisten mit nur anderthalb Prozent Differenz das Rennen gegen die Neo-Demokraten verloren.
Vergangenheitsbewältigung ist auch in Bulgarien ein Trauma. Im Unterschied zu den meisten ehemaligen Ostblockstaaten, wählten die Bulgaren nach über vier Jahrzehnten kommunistischer Mißwirtschaft und totalitärer Unterdrückung die alten Herren wieder an die Macht. Zu groß war die Angst vor dem Neuen, an das Alte hatte man sich ohnehin gewöhnt, und zu stark war das alte System, das nicht unter dem Druck im eigenen Land zusammenfiel, sondern gezwungen war, dem Trend in den „Brüderländern“ zu folgen.
Genau einen Tag nach dem Sturz der Berliner Mauer, setzten Bulgariens Spitzenkommunisten ihren altgedienten Meister Schiwkow ab und zeigten sich reformbereit. Das rostige Image mußte aufpoliert werden. Was bot sich da schon besseres an, als den Namen der Partei zu ändern und einen Sündenbock zu finden. Der Schuldige war Schiwkow und einige seiner engsten Mitarbeiter. Ihnen wurde über Nacht ein Prozeß gemacht, und das Volk rieb sich schadenfroh die Hände. Das Spektakel blieb jedoch aus. Die gerichtliche Anklage glich eher einem Finanzbericht. Das einzige was Bulgariens Ideologen zu verschulden hatten, waren veruntreute staatliche Gelder. „Mit welchem Ziel werden diese Verfahren überhaupt geführt?“ Die Staatsanwaltschaft betrachtete Bulgariens Staatsverbrecher wir Hühnerdiebe, und sie selbst stellten sich blind wie Hühner. — Im Sofioter Justizpalast floß der Zynismus nahezu in Strömen. „Jemand mußte ja schließlich diesen Staat leiten“, rechtfertigte sich Bulgariens Ex-Ministerpräsident Grieche Filipow. „Der Fehler lag an dem von der Sowjetunion aufgezwungenen System. Wir hatten keine Opposition. Selbst wenn wir die größten Antikommunisten gerufen und beauftragt hätten, ein System für die Zerstörung des Sozialismus auszuarbeiten, hätten sie es nicht so gut getan wie wir.“
Auch die Idee der Opposition das Thema Spitzel und Geheimakten als Trumpf gegen die Ex-Kommunisten einzusetzen schlug in Bulgarien fehl. Entgegen aller Erwartungen erlitt den größten Schaden davon die antikommunistische Koalition. Das erste Opfer der Affäre war der Vorsitzende der oppositionellen Union der demokratischen Kräfte, Peter Beron. So absurd es auch klingen mag, die Erklärung dafür ist einfach. Laut Äußerungen ehemaliger Angestellter der bulgarischen Geheimdienste könne man „in den Agentenlisten figurieren, ohne es zu ahnen“. Nach Ansicht des stellvertretenden Vorsitzenden des parlamentarischen Ausschußes zur Prüfung der Stasi-Akten der Abgeordneten, Rumen Danow, seien nach einer Sonderanordnung des ehemaligen Innenministeriums keine Parteimitglieder als Mitarbeiter der Staatssicherheit angeworben worden. Die ehemaligen Kommunisten waren ohnehin verpflichtet, über jede parteifeindliche Äußerung zu berichten. Was die Denunziationen der Parteifreunde untereinander betraf, so gab es ausreichend Zeit, die Akten zu vernichten. „Das bulgarische Stasi-Roulette begann sich zu drehen. Doch die Angel wird mit Sicherheit nicht oft im roten Feld liegen bleiben.“ Der Journalist Borislaw Tschelakow hatte mit dieser Prophezeiung völlig recht.
Überraschend einigten sich Bulgariens politischen Erzfeinde im Parlament, die Stasi-Akten dennoch nicht zu öffnen. Einige Tageszeitungen, die angebliche Listen der alten Agenten in der neuen Volksversammlung veröffentlichten, wurden über Nacht verklagt.
Sogar zu den Zeiten der rot- blauen Koalitionsregierung behielten die Ex-Kommunisten die Fäden weiterhin fest in der Hand, offensichtlich auch in der Hoffnung eines sozialistischen Comebacks. Während des Moskauer Putschversuches wurde dies besonders deutlich.
Die „Hexenjagd“ blieb in Bulgarien aus. Die neue antikommunistische Führung will nun die alten Machthaber zur Verantwortung ziehen. Vorerst verabschiedete Bulgariens Parlament ein Gesetz über die Enteignung der Bulgarischen KP und ihrer Satellitenorganisationen. Die Begleichung alter Rechnungen beginnt in diesem Balkanland erst jetzt. Vielleicht fehlt aus diesem Grund im politischen Wörterbuch des Staates noch die Bezeichnung „Vergangenheitsbewältigung“?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen