piwik no script img

Hiobs Coca-Cola mit Wortwitz und Johannisbeeren

■ »Dr. Seltsams Frühschoppen« zur Mittagszeit im Café Paz

Hinterzimmer sind die paterrenen Wiegen großer Kleinkunsttalente. Hier wurde so mancher, was er auf großen Bühnen heute nicht mehr ist: spritzig, komisch und bestechend originell. In eben so einem düsteren Hinterzimmer empfängt auch »Dr. Seltsam« seine Gäste. Und das zweistündige Programm der siebenköpfigen »Frühschoppen-Truppe« ist (sic!) empfehlenswert spritzig, komisch und bestechend originell.

Der kleine Raum füllt sich beizeiten. Kundige Stammgäste besetzen die besten Plätze schon eine halbe Stunde vor Spielbeginn, und während sie sich noch genüßlich am bereitgestellten Frühstück laben, hadern die pünktlich Zuspätgekommenen schon mit ihrem stuhllosen Schicksal. Denn Dr. Seltsam's Frühschoppen ist inzwischen ein prominenter Geheimtip, jeden Sonntag aufs neue überfüllt das »3D-Feuilleton«, die knapp hundert Plätze seiner Spielstätte.

Der Saal ist bereits zum Bersten voll, da gönnt die halb geschlossene Schiebetür zum Hinterhinterzimmer dem vorwitzigen Voyeur immer noch nur einen halbherzigen Blick auf die rückwärtig zechenden Akteure; einsam hält ein dekorierter Notenständer vorne Wache. Sein sowjetroter Ehrenwimpel »Bestes Kollektiv im sozialistischen Wettbewerb« schaukelt lässig im Durchzug, als sich irgendwann irgendwie die Tür öffnet und Dr. Seltsam seltsam unspektakulär erscheint. Seine Kulturbrigade installiert sich gerade mit den Manuskripten auf der improvisierten Bühne, teilt den Weißwein, das Selters und die Nervosität unter sich auf, da lädt Dr. Seltsam noch eben die vom Leben Bestraften ein, auf der Bühne Platz zu nehmen, statt draußen das Beste zu verpassen.

Sie nennen es »Wortvariete«, und es ist ein im besten Sinne prunkloses Erzählfeuerwerk. Denn das Prinzip ist schlicht, aber wirkungsvoll. Einer nach dem anderen treten sie an das Rednerpult und tragen vor, was immer ihnen angelegen erscheint. Eine Groteske über den Böllerkrieg in Westdeutschland. Ein kursorisch erscheinender Schnüffeljournalist, der, die Morgenluft der Verklemmtheit witternd, am liebsten die gesamte deutschsprachige Prominenz outen würde. Besinnungsaufsätze über Kinderliebe und spirit of the enterprise — die endgültige Abrechnung mit dem Verfall des Dienstleistungsgewerbes.

Andreas Schäffler trifft den gestählten Nerv aller komfortentwöhnten Altbaubewohner mit der wunderbar erzählten Geschichte Winter im Wedding und vermag das Publikum über mehrere fiktive U-Bahn-Stationen hinweg mit seiner einzigartigen Erzählweise und diversen kleinen und großen »scheinbaren Abweichungen« in Bann halten. Der Lyriker unter den Frühschoppen-Literaten ist Jürgen Witte. Er widmet sich paarreimend den personellen Untiefen bundesdeutscher Wirtschaftspolitik: Das klingt dann beispielsweise so: »Jürgen W punkt Möllemann/ wenn man — wie Du — so gar nichts kann/ ist es dann nicht wirklich Mist/ daß Du jetzt Minister bist?« Horst Ewers ist wiederum ein Freund der wörtlichen Rede. Mit drei monologisierten Interviews run-gagt er durch den zweistündigen — und zudem kostenlosen! — Lachmarathon, der mit Wortwitz, politischer Schärfe und einer gehörigen Portion skurrilem Humor unterhaltsamer ist als die vielen teuren Tingeltangel-Kabarett- Unternehmen.

Daß die Seltsam's verdammt viel verdammt schnell drauf haben, stellen sie — nicht ganz uneitel — in der zweiten Hälfte ihrer Leseshow unter Beweis: Mit ein paar zufällig zugerufenen Worten wie »Cola«, »FDJ- Hemd« und der Bibelstelle Hiob 3, Vers 18 verziehen sie sich in der Pause hinter die Schiebetür, um in kurzen 15 Minuten sechs variationsreiche Geschichten zu erfinden. So wird aus FDJ mal der Slogan »Feist durch Joghurt«, mal der Liebhaberverein »Friß die Johannisbeeren«. »Sinn macht das freilich keinen« gibt Hans Duschke am Ende seiner höchst merkwürdigen Geschichte zu bedenken, aber wen im Auditorium stört das schon.

Das Leben hat — auch das eine Erkenntnis dieser sonntäglichen Zusammenkunft — eben nur wenige Pointen, dafür um so mehr widerliche Slogans. Als satirischen Beitrag zur Asylproblematik wollen die »Frühschoppen-Boys« den vierstimmigen Peter-Alexander-Remix verstanden wissen: »Hier ist ein Mensch/ der will zu Dir/ Du hast ein Haus/ öffne die Tür« gröhlt es so hinreißend dissonant aus den kakophonen Sängerknaben, daß ihnen ein ums andere Mal selbst die Luft vor Lachen (oder Erschrecken?) im Halse stecken bleibt.

Kaum Gutes, das es nicht gibt bei Dr. Seltsam's Frühschoppen. Die spontan-theatralen Stehgreifspiele, bei denen die mutigen Akteure ihre Rollen erst Bruchteile vor der Premiere ausgehändigt bekommen, sind kollegial-schadenfroher Schabernack und entlassen endgültig und unwiderruflich jeden Anspruch einer womöglich geregelten Struktur in die Betriebsferien. »Ich hasse Mitmachtheater«, stöhnt Dr. Seltsam, sich in sein Bühnenschicksal ergebend, als Kollege Gert ihn in die Rolle eines Karl-Marx-Wandporträts zwingt. Minutenlang muß er einen alten Bilderrahmen vor sein Gesicht halten, damit ihm Freund Friedrich Engels schlußendlich »Hier hängst Du also rum!« vorhalten kann.

Kein Kalauer am Wegesrand, der nicht den Weg zu Seltsam's fand. Das ist aber — ich schwör's bei meiner Großmutter — insgesamt so unglaublich komisch, daß alle ganz, ganz traurig sind, als der Frühschoppen dann kurz vorm Dunkelwerden endgültig sein Ende gefunden hat. Die Truppe ist abgekämpft, das Publikum tobt. »Hiob 3, Vers 18«, denke ich beim Rausgehen sauerstoffgierend: »Da haben die Gefangenen allesamt Frieden/ und hören nicht die Stimme des Treibers.« Und: »Da muß ich nächstens unbedingt noch mal hin.« Klaudia Brunst

Dr. Seltsam's Frühschoppen gibt's noch bis Ende des Monats jeden Sonntag um 13 Uhr im Café Paz, Rosenthaler Straße 51 in Berlin Mitte. Der Eintritt ist frei.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen