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■ Timm Starl offenbart die Abgründe der Fotogeschichte
Wie jeder weiß, der eine Zeitung in der Hand hält, hat die Technik uns vollkommen runiniert. Während wir vor kurzem noch gemütlich in einer Höhle saßen, abwechselnd fraßen und uns begatteten, gelegentlich, völlig unentfremdet, in den Wald huschten, um einen Hasen oder Hirsch zu erledigen, sitzen wir jetzt in öden Betonbaracken und beschießen unsere Nachbarn mit MGs.
Wie Timm Starl, Herausgeber einer Zeitschrift namens 'Fotogeschichte‘, in einer Aufsatzsammlung Zur Fotografie des 19. Jahrhunderts jetzt überraschend klären kann, ist die Erfindung und Verbreitung des Fotoapparats an dieser Entwicklung entscheidend beteiligt: „Das Foto kompensierte die Defizite sinnlichen Wahrnehmens und bestätigte dem Betrachter zugleich die Momenthaftigkeit eigenen Erlebens, es konservierte eine alltägliche Ansicht für alle Zeiten und bezeichnete doch nur einen Augenblick, der im Alltag nie wahrgenommen werden konnte.“ Zyniker werden sicher sagen: wieso nur? Ein Augenblick, den es im Alltag nicht gibt, dafür aber in der Fotografie, sei doch gewissermaßen eine Abwechslung.
Aber diese Leute sind dem Freizeitterror schon verfallen, den die Industriegesellschaft ihnen aufgezwungen hat. Wie Starl jetzt postuliert, sind Fahrrad und Fotoapparat an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig: „Denn die beiden Geräte, über die verfügt werden konnte, hatten einen (nicht nur örtlich) begrenzten Radius und disziplinierten so ihre Benutzer zur Reduzierung ihrer eigentlich Anliegen“ (s.o.). „Die industriellen Hersteller von Rad und Kamera genossen jedoch den ökonomischen Vorteil der größeren Serie — und nicht die individuellen Bedürfnisse sollten in Zukunft das Freizeitverhalten prägen, sondern die Beschaffenheit von Serienfabrikaten.“ Gleich, als ich das gelesen habe, habe ich mir bei Leitz eine Kamera in Platin mit Goldlegierung bestellt, um die Hersteller mit ihren Billigfabrikaten definitiv um ihren Genuß zu bringen. Allerdings scheint mir die Anschaffung problematisch, seit ich bei Starl gelesen habe, daß die Portraitfotografie uns die letzten Reste unserer Intimsphäre beraubt hat: „Sogar in den eigenen vier Wänden konnte man sich nicht mehr unbeobachtet zurückziehen (grammatisch so im Original), seitdem die Glühlampen die ganze Wohnung in helles Licht tauchten.“
Meine Nachbarn müssen aber nicht wirklich Angst haben, wenn ich sie fotografiere. Denn die gewissermaßen unfreiwillige Atelierfotografie, deren Gegenstand sie dann sein werden, ist „die Fassade des Bürgertums, hinter der das wahre Gesicht des Alltags verborgen“ bleibt. Na also, kein Grund zur Sorge.
Andererseits: „Es ist merkwürdig: Die genaueste Wiedergabe des Realen provozierte die umfassendsten Träume.“ Schade nur, daß der Herr Starl zu den Fotografien in seinem eigenen Buch nichts geschrieben hat. Wenn man die Träume umfassend interpretiert, ist es nämlich manchmal ein Riesenvergnügen sich vorzustellen, warum die Zeiten der Höhlenmalerei zu Ende gehen mußten. Ulf Erdmann Ziegler
Timm Starl: Im Prisma des Fortschritts · Zur Fotografie des 19. Jahrhunderts , 136 S., geb., Jonas Verlag, 98 Mark.
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