: Tabuzone „Liebe und Wahnsinn“
■ „Irrtu(r)m“: Sexualität psychisch Kranker wird bewußt aus der Klinik verbannt
„Sex und Seele — das sind gleich zwei Tabuzonen, denen wir uns genähert haben“, sagt Georg Hubrich, Mitarbeiter im Zeitungsprojekt „Irrtu(r)m“. Ausgehend von eigenen Erfahrungen hat das Projekt der „Initiative zur sozialen Rehabilitation und Vorbeugung psychischer Erkrankungen“ in seiner jüngsten Ausgabe „Liebe und Wahnsinn“ thematisiert. Daß die Tabus so weit reichen, daß es noch nicht einmal Fachliteratur zu diesem Thema gibt, erfuhren die Redaktionsmitglieder erst, als ihr Heft auf dem Markt erschien. Dabei hatten einige zuvor bezweifelt, daß das Thema überhaupt veröffentlichbar sei. Dennoch nutzten sie die Chance, sich aus ganz neuer Perspektive ihrem „Wahnsinn“ zu nähern.
Wer (richtig) liebt, kann nicht wahnsinnig werden, meinte eine. Ein anderer behauptete jedoch: Wer wahnsinnig ist, kann gar nicht (richtig) lieben. Einig war sich das Redaktionsteam von zumeist langjährig psychisch Kranken vor allem darin, daß bei Liebe und Wahnsinn der Gefühlshaushalt arg ins Schleudern gerät, sich extreme Sinneswallungen einstellen können und sich „anarchische Strömungen“ ergeben, die herausfordernd sind, aus der Reserve locken und ganz schön mitnehmen. Und die Liebe, so fanden viele, sei oft wahnsinnsträchtig: Wenn man/frau wie verrückt liebt, bekomme man halt nicht alles so vernunftmäßig auf die Reihe.
Doch wenn es um Liebe und Wahnsinn geht, darf Sexualität nicht fehlen. Auch nicht bei den oft monatelangen Klinikaufenthalten, die psychisch Kranke meist mehrfach erleben. „Vollgepumpt mit Haldol, Neurocil und Tavor (=Psychopharmaka) läuft
Georg Hubrich, Mitarbeiter beim Zeitungsprojekt „Irrtu(r)m“Foto: Christoph Holzapfel
, da gar nichts in der Hose ab. Auf der Geschlossenen erinnert dich nichts an Sex“, erzählte Mike dem „Irrtu(r)m“-Team in einem Interview. „Auch Onanieren war nicht drin. In der Offenen lief das ein wenig anders. Dort hatte ich mehrere Beziehungen. Sei es, daß wir es auf dem Klo getrieben haben, im Stehen im Park oder, wenn man den Bettnachbarn gefragt hatte, ob er das Zimmer für eine Weile verlassen könnte, auch im Krankenbett“, berichtet Mike weiter. All dies sei jedoch immer mit der Angst geschehen, entdeckt zu werden: hastig und ohne Zärtlichkeit. Mike: „Wegen der schweren Chemokeulen habe ich immer erst gegen Ende der Behandlung Lüste verspürt.“
Was Mike und Sandra (vgl. nebenstehendes Interview) dem Irrtu(r)m so scheinbar freimütig zu ihrem Sexualleben erzählen, setzte allerdings lange Gespräche und vor allem: eine enorme Ver
hier foto Mann vor gemälde
trauensbasis zu ihren Interviewern voraus. Nur weil die Betroffenen sich kannten, gemeinsame Erfahrungen und eine gemeinsame Sprache haben, kamen die Interviews zustande. Offizielle Unterstützung erfuhr der „Irrtu(r)m“ bei seiner Arbeit in Bremens Psychiatrischer nicht. Im Klinikalltag sind Sex und Erotik ohnehin kein Thema. Auch über Beziehungen werde dort nicht geredet. Detlef zum Beispiel erzählt, daß er verfrüht aus der Klinik entlassen wurde, weil er zu einer Mitpatientin eine freundschaftliche Beziehung entwickelt hatte. Andere mit ganz anderer Krankengeschichte bestätigen das.
„Beziehungen und sexuelle Kontakte sind ein Zeichen der Gesundung, der Stabilisierung, und damit ist das Objekt der Therapie nicht mehr therapierbar“, interpretiert Georg Hubrich die Erfahrungen mit Ärzten und Klinikper
sonal. Dabei zeige sich jedoch eine Ambivalenz bis hin zu doppelter Moral: einerseits müsse der therapierbare Kranke normal sein (z.B. rituell brav seine Pillen schlucken), andererseits dürfe er keine normalen sexuellen Empfindungen haben.
„Der soziale Winter, die Kälte, kommt aber erst nach der Entlassung — wenn die Geborgenheit unter Drogen wegfällt“, betont Detlef resigniert. „Dann steht die Beziehungslosigkeit vor der Tür. Freundinnen gehen stiften. Wer will schon einen Irren lieben?“ Birgitt Rambalski
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