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Keine Peitsche für Nietzsche

■ Ein heiserer Schrei nach Macht oder Daniels Traum von der Freiheit

Philosophisches auf einer Theaterbühne — das klingt nach einem Experiment. Bernd Ludwig mischt O-Ton des Altmeisters Nietzsche mit Selbsterdachtem zu einem Stück und steht dann auch gleich selbst auf den Brettern, der Vorlage Leben einzuhauchen.

Man verbindet Zwiespältiges mit dem Namen Nietzsche: Den alten Schwerenöter, der seinen Geschlechtsgenossen zur Vermeidung von Dramen mit den Damen die Peitsche wärmstens ans Herz empfahl (»Gehst Du zum Weibe, vergiß die Peitsche nicht«) und der den Nazis so wunderbar ins ideologische Konzept paßte. Mögen letztere ihn mißverstanden haben — die arische Denkerstirn steht nicht zwangsläufig für Intelligenz. Mit Nietzsches Übermenschen, der vor allem ein freier Geist ist, hatten die blondstrotzenden, vaterlandstreuen Buben und Mädel aus deutscher Zucht herzlich wenig gemeinsam. Da bemüht sich der Autor junior Bernd Ludwig auch gleich um Klarstellung, bringt eine jüdische Großmutter ins Spiel und zitiert Entlastungsmaterial aus des Seniors Feder. Wenn dieser den Blitzstrahl seiner Verachtung gegen alles Niedere und Gewöhnliche schleudert, macht er vor dem deutschen Volk keineswegs halt: es zeichne sich vor allem dadurch aus, sich bereitwillig durch Arbeit versklaven zu lassen. So recht wir ihm in diesem Punkte geben müssen, die Sache mit den Frauen steht noch aus.

Daniel, ein ehemaliger Lehrer, hat der schnöden Welt den Rücken zugekehrt. Umgeben von Tafeln mit Lehrsätzen seines Meisters, hat er sich in seiner Gelehrtenstube vergraben und läßt Gott ein zweites Mal sterben. Er übt sich in der absoluten Freiheit des Individuums, das selbst Schöpfer seiner Welt ist und sich aus allen Abhängigkeiten gelöst hat. Den roten Wein als einzigen Freund sehnt er sich nach der Liebe. Seinen Grundsätzen getreu schafft er sich sein Weib selbst. Nicht aus einer Rippe — aus einem Stück Tafel ward sie zu Fleische, und das feministische Herz schlägt ein wenig gequält, wenn die frischbackene Weiblichkeit sich sogleich zur Schreibmaschine begibt, die Ideen des Juniors schriftlich zu verewigen. Glücklicherweise ist sie nicht dumm, im Gegenteil. Ihr Name ist Tia, Kurzform von Sokratia, eine Art Reinkarnation des Uraltmeisters. Die philosophischen Ergüsse ihres hitzköpfigen Schöpfers versieht sie mit sparsamen, vernunftbetonten Kommentaren. In einer Traumszene erscheint sie ihm als Sokrates und beweist ihm mit Hilfe einiger Mühlesteine, daß erst durch die Vernunft die Tugend zur Tugend wird. Hier scheiden sich die philosophischen Geister. Wutentbrannt schleudert der Nietzschejünger die Mühlesteine zwischen die Zuschauerbänke, »ich bin der Antichrist« auf den bebenden Lippen. Die wissenschaftliche (vernünftige) Analyse des Geheimnisvollen ist ihm zuwider.

Daniel hält eisern an seinem Dogma fest, ein Dialog findet nicht statt. Die Schöne, deren Lebenssinn einzig die Liebe zu ihrem Herrn hätte sein sollen, goutiert mit nonchalanter Distanz, wie dieser sich in den Wahnsinn steigert. Als er flehentlich das Brennen seiner Leidenschaft beklagt, empfiehlt sie ihm einen Eimer Wasser. Schmerzvoll muß er in die Fußstapfen von Pygmalion treten, sein Wesen hat eine eigenständige Identität entwickelt. Der nach Allmacht Strebende ist hier an seine Grenze gestoßen: die absolute Eigenständigkeit des Individuums läßt sich nur in der Isolation verwirklichen.

Bernd Ludwig spielt diese Rolle souverän und mit viel Kraft. Man fühlt, daß hier ein Stück eigener Geschichte und Identitätsfindung bewältigt wird. Auch Marietta Bürger als Tia wirkt innerhalb des engen Rahmens, den ihr die Rolle läßt, überzeugend.

Fragt sich bloß, was mit der Peitsche passiert ist. Dies Requisit fehlt in der Inszenierung von Folke Brabant vollständig. Kein Wunder, daß es mit der Dressurnummer nicht geklappt hat, wenn der Aspirant die Weisungen des Meisters so leichtfertig in den Wind schlägt. Jantje Hannover

Nur vier Vorstellungen: Do., 9.1. bis So., 12.1., 20.30 Uhr. Freunde der Italienischen Oper, Fidicinstraße 40, Kreuzberg.

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