Stevie hofft auf Boxer-Shorts

Ken Loachs „Felix“-Film „Riff-Raff“  ■ Von Michaela Lechner

Riff-Raff nennt der englischsprachige Raum den gesellschaftlichen Auswurf — alles, was Abfall, Gerümpel, Gesindel ist. Ken Loach zeigt Riff-Raff allerorten: Ratten lümmeln auf der Baustelle. Der Aufenthaltsraum der Arbeiter ist müllkippengleich. Den Schauplatz bearbeitet die allerunterste Stufe der working-class, als Helden selten filmtauglich: ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Dropouts aus allen Ecken Großbritanniens. Schotten, Iren, Liverpooler, Weiße, Schwarze, die unter katastrophalen Bedingungen und für einen Hungerlohn das „Prince-of-Wales-Hospital“ umbauen. Schließlich brauchen Englands Yuppies luxuriöse Eigentumswohnungen.

Die Ausgangskonstellation verheißt düster-didaktische Sozialtragödie. Und doch hat Ken Loach eine unglaublich witzige, bitterböse Komödie inszeniert. An Riff-Raff interessieren weder Kameraeinstellungen noch musikalische Untermalung. Wahrscheinlich gibt es nicht einmal eine Geschichte. Nur viele kleine Begebenheiten, Gespräche, winzige Details rund um die Baustelle, die ständig für Situationskomik sorgen. (Nicht synchronisiert garantiert das dialektal gefärbte umgangssprachliche Wirrwarr zusätzliches Vergnügen.)

Menschen mit Macken, Schwächen und unterschiedlichen Lebensweisen, alle sind liebenswert. Larry (Ricky Tomlinson), der korpulente Gerechte, nutzt die Mittagspausen zu Agitationszwecken. Leidenschaftlich bilanziert er die Verfehlungen des Thatcherismus und propagiert vor staunenden Kumpels die Umverteilung des Privateigentums. Der Afrikaner Desmond (George Moss) träumt von Afrika, das er nur aus Urlaubsprospekten kennt. Stevie (Robert Carlyle), vielleicht die Hauptfigur des Films, hofft auf Boxer- Shorts und den kleinen gesellschaftlichen Aufstieg.

Die Protagonisten wirken authentisch, die Dialoge locker — fast wie in einem Dokumentarfilm. Den alltäglichen Katastrophen zwischen Bauschutt und Zementsäcken läßt sich nur mit Galgenhumor begegnen. Denn „depressions are middle- class“ erklärt Stevie seiner Freundin Susan (Emer McCourt). Ein Schild, das Pinkeln im Hausflur verbietet, wird lakonisch mit dem Zusatz „Piss off!“ versehen. Die Jagd nach den allgegenwärtigen, unausrottbaren Ratten wird schlagfertig mit „Worse than in the Falklands!“ kommentiert.

Ken Loachs Figuren sind Stehaufmännchen wie Chaplin oder Keaton. Tapfer strampeln sie gegen Widriges und träumen ungehemmt von einer besseren Welt. Im Kino lacht man nicht über sie, sondern mit ihnen. Wenn die Distanz zwischen Publikum und den Menschen auf der Leinwand aufgehoben wird, muß man Partei ergreifen für das „Lumpenproletariat“ (O-Ton Ken Loach) und Anteil an gesellschaftlichen Mißständen nehmen. Aus Sperrmüll wird sperriger Müll.

Da Klassenkampf im Kino unbequem ist, drohte Riff-Raff das gleiche Schicksal wie früheren Loach-Filmen — in Regalen zu rümpeln und stauben. (So liegen vier Dokumentarfilme, die Loach in den achtziger Jahren fürs Fernsehen gedreht hat, wegen ihres „kontroversen Inhalts“ auf Eis.) In Großbritannien startete der Film im Sommer lediglich mit drei Kopien. Das einhellige Lob der Kritik und die große Publikumsresonanz in den Vorführungen des „British Film Institute“ konnten die angesetzte Fernsehabwicklung verhindern. Und dann hat Ken Loach im Dezember für Riff-Raff den „Europäischen Filmpreis 1991“ bekommen...

Riff-Raff , Regie: Ken Loach, mit Robert Carlyle, Emer McCourt, Micky Tomlinson. Großbritannien 1991, 94 Min., Farbe