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DEBATTEAlgerien — ein zweiter Iran?

■ Die Islamische Heilsfront wird im Parlament die absolute Mehrheit haben

In Algerien hat die Islamische Heilsfront (FIS) bei den Parlamentswahlen am 26. Dezember auf Anhieb 188 von 430 Sitzen gewonnen, die sozialdemokratische FSS, die vor allem bei den Berbern in der Kabylei verankert ist, errang 25 Sitze, die seit 30 Jahren alleinregierende FLN mußte sich mit 15 begnügen. In einem zweiten Wahlgang werden nun am 16. Januar in den 202 Wahlkreisen, in denen im Dezember kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht hat, die beiden Bestplazierten gegeneinander antreten. Es ist so gut wie sicher, daß die FIS weit mehr als die für eine absolute Mehrheit im Parlament noch nötigen 28 Sitze gewinnen wird. Präsident Chadli, der der FLN angehört, müßte dann mit einem islamisch beherrschten Parlament kohabitieren.— Die folgende Analyse entnehmen wir — gekürzt — der relativ liberalen algerischen Tageszeitung 'Le Quotidien d'Algérie‘:

Nach dem ersten Wahlgang ist klar: Die Islamische Heilsfront (FIS) ist für viele Algerier Hoffnungsträgerin. Wenn nichts Unvorhersehbares dazwischenkommt, wird sie im Parlament eine Mehrheit haben, und logischerweise wird sie dann vom Staatspräsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt.

Was wird die FIS machen? Aufgrund ihrer Regierungserfahrungen auf lokaler Ebene wissen die FIS- Führer, daß Siege sich in „richtiggehend vergiftete Geschenke“ verwandeln können. Das Desaster der Kommunalpolitik der FIS und die Unfähigkeit ihrer gewählten Vertreter, den immensen Bedürfnissen der Bürger Rechnung zu tragen, haben der FIS das Gefühl vermittelt, daß sie sich auf einem tückischen Terrain festgefahren hat.

Die FLN ihrerseits hoffte darauf, daß die Wählerschaft die FIS für ihre erfolglose Kommunalpolitik bestrafen würde. Dem war aber nicht so. Und wenn sich nun im zweiten Wahlgang diejenigen, die sich enthalten haben, nicht massiv mobilisieren lassen, ist geht für die FLN eine Geschichte zuende.

Was wird nun also geschehen? Wird Algerien ein zweiter Iran? Das ist die abgedroschenste These. Die FIS könnte sich vielmehr die Zeit nehmen, um eine ruhige und dauerhafte Islamisierung zu organisieren.

Die FIS weiß, daß ihre Gegner auf Zeit spielen, und nun kann endlich auch sie einmal auf Zeit spielen. Das Terrain, auf dem ihre Gegner auf sie warten, ist das der Verfassung. Die FIS könnte sich mit dieser anfreunden und beschließen, daß der Zeitpunkt, diese Grundlage anzugreifen, noch nicht gekommen sei. Statt auf Konfliktkurs mit dem Staatspräsidenten zu gehen, wird sie mit ihm eher eine Kohabitation eingehen und unterhalb dieses Agreements darauf hinarbeiten, die eigene soziale Basis zu erweitern.

Die potentiellen Gegner einer FIS-Regierung sind die Armee, die Privatunternehmer, die Wirtschaftsführer, die UGTA (FLN-nahe Gewerkschaft, A.d.R.) und vor allem eine Basis, die sich das Paradies schon morgen vorstellt. Dann gibt es auch noch ein internationales Umfeld, dessen Interessen befriedigt sein wollen.

Für die FIS ist die Armee die nächstliegende Gefahr. Aber muß denn eine Konfrontation unvermeidlich sein? Die Armee, die in der Tat die Rolle eines Hüters der verfassungsmäßigen Institutionen einnimmt, kann sich nicht ohne weiteres erlauben, das Votum der Urnen zu ignorieren. Wenn sie eine Konfrontation beginnen würde, könnte dies Probleme innerhalb der Streitkräfte selbst hervorrufen. Auf jeden Fall wird die FIS ein Interesse haben, die Grenzen des Rechts nicht zu überschreiten und mit der Armee zu einem Modus vivendi zu kommen.

Die Geschäftsleute wurden in Algerien immer schlecht behandelt. Es sind Männer und Frauen, die in ihrer Mehrzahl westlich orientiert sind. Das Katastrophenszenario sieht vor, daß sie in großer Zahl ins Exil auswandern. Um diesem eventuellen Aderlaß zu begegnen, muß die FIS die Angst bekämpfen. Es geht darum, die Geschäftsleute dazu zu bewegen, in Algerien zu bleiben. Die Privatisierung des staatlichen Wirtschaftssektors könnte da ein mächtiger Hebel werden.

Für die FIS hätte dies den Vorteil, daß sie sich nicht an der Verwaltung eines kranken Wirtschaftssektors, der eine große Finanzspritze nötig hat, festbeißen müßte. Zudem würden den abträglichen Vorurteilen der internationalen Finanzinstitutionen der Boden entzogen.

Das Ausland wird sich arrangieren

Die FIS hat nicht vergessen, daß das Debakel des Juni-Streiks der Tatsache geschuldet war, daß die meisten Arbeitnehmer in der UGTA organisiert sind. Die UGTA hat die Erhaltung des staatlichen Wirtschaftssektors zum Credo erhoben. Die Stärke der UGTA bestand darin, beim Kampf um die Erhaltung der Arbeitsplätze an der Spitze gestanden zu haben. Sie hat die Arbeitnehmer dazu gebracht, sich für die Erhaltung des staatlichen Wirtschaftssektors stark zu machen.

Wenn nun im Rahmen einer Privatisierung, wie sie der FIS vorschwebt, die Beschäftigten sich am Aktienbesitz der Unternehmen beteiligen könnten, würde dies der UGTA ein gewichtiges Argument entziehen. Es könnte sogar zu einer Zersetzung ihrer aktiven Basis führen. Andererseits könnte die SIT, die islamischen Gewerkschaft, aufgrund ihrer privilegierten Beziehungen zur künftigen Regierung aufblühen.

Würden Marokko und Tunesien nicht vielleicht die Grenzen schließen, um die islamische Epidemie einzudämmen? Was hätte das für Folgen für Algerien? Keine, oder nur gute. Die Öffnung des maghrebinischen Raums ging bislang zu Lasten der algerischen Wirtschaft. Die Tunesier und Marokkaner haben viel mehr zu verlieren, wenn sie die Grenzen schließen. Sie werden also die islamische Regierung in Algerien akzeptieren, damit das Geschäft weitergeht.

Die USA und die BRD ihrerseits haben immer nach der Maxime „Geschäft ist Geschäft“ gehandelt. Algerien ist ein vorzüglicher Markt, den es nicht zu verlieren gilt.

Zu Frankreich hingegen, so könnte man sich vorstellen, werden sich die Beziehungen verschlechtern. Doch François Mitterrand hat bereits die Tonlage vorgegeben: „Ob nun die FIS oder die FLN, ist egal, Hauptsache sind die französischen Interessen.“ Auf kultureller Ebene könnten sich die Beziehungen paradoxerweise sogar entspannen. Anders als die FLN mit ihren krankhaften und widersprüchlichen Beziehungen zu Frankreich hat die FIS nie eine Abneigung gegenüber der französischen Sprache kundgetan. Frankreich wird sich also nicht genieren, über die FIS an der FLN Rache zu nehmen. In ihren Beziehungen zum Westen kann die FIS auf die Tatsache zählen, daß die Staaten kaltblütige Institutionen sind, die sich nach dem Kriterium des eigenen Interesses verhalten. Die Geschäftsleute besorgen den Rest.

Das Schwierigste ist die Basis. Dieses Volk, das im FIS den rettenden Anker sieht. Immensen Bedürfnissen stehen sehr begrenzte Möglichkeiten gegenüber. Wie soll man diesen Massen, die glauben, ein Sieg der FIS öffne zwangsläufig den Weg zu einem besseren Leben und zu Gerechtigkeit, Hoffnung und vor allem einen Lebenssinn vermitteln? Von allen Zwängen, mit denen sich die FIS konfrontiert sehen wird, werden die gebieterischen Forderungen der eigenen Basis die größten Probleme aufwerfen.

Man kann nie oft genug darauf hinweisen, daß die Perversion der islamischen Revolution im Iran das fast automatische Resultat der Unfähigkeit der Mullahs war, den Erwartungen der Enterbten nachzukommen. Die FIS wird schnell einen Ausweg oder einen Ersatz für diese Basis finden müssen, wenn sie verhindern will, daß sie von einer Radikalisierung ergriffen wird, die im übrigen von den Algeriern auf keinen Fall akzeptiert würde.

Die FIS muß schnell eine konkrete Antwort auf die Erwartungen der Massen finden. Sonst könnte die soziale Frage, die sich bislang nur unter dem Blickwinkel der Religion geäußert hat, Revanche nehmen. Dann aber würden alle Szenarien möglich. Djaafer Said/Übersetzung: thos

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