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Ich besitze nichts

„Erinnerungen eines Revolutionärs“: Victor Serges Autobiographie  ■ Von Peter Laudenbach

Die Lektüre der Erinnerungen eines Revolutionärs ist heutzutage eine seltsam ungleichzeitige Angelegenheit: Der Revolutionär, der hier eine Biographie schreibt, ist kein osteuropäischer Dissident, auch kein ehemaliger Stalinist, der mit seiner Vergangenheit abrechnet, sondern Anarchist. Es ist kein Zufall, daß man ihn wohl auch taz-Lesern als einen nahezu Unbekannten vorstellen muß: Victor Serge (1890-1947) gehört zur verschütteten linksradikalen Gegenposition zum Stalinismus.

Die Rezeption seiner Autobiographie ist exemplarisch: 1951 postum in Frankreich erschienen, wurde das Buch erst 16 Jahre später in der Bundesrepublik verlegt, in der DDR erschien es selbstverständlich nie. Die Studentenbewegung ignorierte Serge: Während die diversen kommunistischen Sekten die Volksmassen missionierten, wurde ein Großteil der deutschen Erstausgabe verramscht. Den letzten Versuch wagte 1977 ein winziger Verlag, der einige Jahre später pleite ging. Diese Abwehr Serges, der anders als in Deutschland in Frankreich ein selbstverständlich bekannter Autor ist, macht die Publikation seiner Memoiren durch die Edition Nautilus zu einem wagemutigen Unternehmen. Sie sabotiert eine fatale Tradition: Das konsequente Verdrängen antiautoritärer Radikalität seit dem Rauswurf Bakunins aus der Ersten Internationale durch Marx & Co. gehört zweifellos zu den Wurzeln des gründlichen Scheiterns sozialrevolutionärer Perspektiven in Europa.

Nicht nur, daß sie quer zu allen gängigen Rastern heute üblichen politischen Diskurses stehen, macht die Lektüre der Erinnerungen zu einer irritierenden Erfahrung. Noch fremder wirkt die ungebrochene Hoffnung, von der Serges Aufzeichnungen zeugen. Zu Beginn der vierziger Jahre vor den faschistischen und stalinistischen Schlachtfesten ins mexikanische Exil geflohen, beschreibt Serge seine Position mit einigen lakonischen Sätzen: „Ich für meinen Teil habe etwas über zehn Jahre Gefangenschaften verschiedener Art hinter mich gebracht, habe in sieben Ländern gekämpft, zwanzig Bücher geschrieben. Ich besitze nichts. (...) Hinter uns: eine siegreiche Revolution, eine so große Zahl von Massakern, daß einem darüber schwindlig werden könnte. Und wenn man denkt, daß das noch nicht zu Ende ist. (...) Es sind die einzigen Wege, die uns offen stehen. Ich habe mehr Vertrauen zu den Menschen und zur Zukunft als ich einst hatte.“

Zumindest diesem „Vertrauen“ begegnet man heute mit dem Blick eines Archäologen, der einen außergewöhnlich schönen Fund, Überbleibsel einer fremden Kultur, betrachtet. Serges Sätze würden naiv und kitschig wirken, wenn sie nicht durch sein gesamtes Leben belebt, ermöglicht wären. Er bewegte sich in der „siegreichen Revolution“, seine Genossen wurden in den Massakern des Stalinismus umgebracht, die Gefängnisse, die er kennengelernt hat, standen auf beiden Seiten der Front.

Aufgewachsen in Belgien und Frankreich als Sohn russischer Emigranten, geprägt von dem „Gefühl, daß ich in einer Welt lebte, aus der kein Ausweg möglich war und in der einem nichts anderes übrig blieb als um einen unmöglichen Ausweg zu kämpfen“, schlägt er sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs in den Elendsvierteln von Paris durch, ein revolutionärer Schwärmer, der an seinem Haß zu ersticken droht: „Eine wahre Explosion der Verzweiflung reifte unter uns heran, ohne daß wir es wußten. (...) Diese Welt war unannehmbar; unannehmbar das Schicksal, das sie uns bescherte. Wir waren im voraus zerschmettert, was wir auch tun mochten.“ Eine gefährliche Gefühlslage, ein wütender Ausbruchsversuch; mit dreiundzwanzig die erste Verhaftung, weil er Freunde nicht denunzieren will...

Serges Blick auf das eigene Leben ist eher an gesellschaftlichen Bewegungen als an Psychologie interessiert, er schreibt die Lebensgeschichte ein in die Umbrüche und Katastrophen der Epoche. So zeigt er die wütende Revolte seiner Jugend als ohnmächtige Reaktion auf vollkommen erstarrte Strukturen. Die Euphorie, die die russische Revolution auslöst, wird vor diesem Hintergrund erkennbar als existentielle Erfahrung einer Generation: „Jetzt fiel das rechte Licht auf die Dinge, die Welt wurde nicht mehr von unheilbarem Wahnsinn mitgerissen.“ Als Serge im Januar 1919 in Petrograd eintrifft, die erste Irritation: ein Zeitungsartikel Sinowjews für „Das Monopol der Macht“, eine Apologie autoritärer Herrschaft.

Was folgt, ist das Protokoll des Bankrotts einer Hoffnung, heute lesbar als die Geschichte einer Desillusionierung gegen den Widerstand der eigenen Wünsche: Die Verselbständigung der Geheimpolizei, die „Psychose der Macht“, die Ausrottung der inneren Opposition von den Sozialdemokraten bis zu den meuternden Matrosen von Kronstadt, die Korruption des Apparats, die Kolonialisierung der eigenen Bevölkerung. Während des Bürgerkiegs ist Serge hoher Funktionär der neu konstituierten Dritten Internationale, er verkehrt in der Chefetage, hat Umgang mit Sinowjew, Kontakt zu Lenin, Trotzki, Bucharin, Radek, Maxim Gorki, ebenso zu Oppositionellen wie der Anarchistin Emma Goldmann. Wenn er seine Aktivitäten immer wieder als „fieberhaft“ beschreibt, ist das nicht nur eine klischierte Metapher, sondern auch der präzise Ausdruck für einen Zustand zwischen Überhitzung und Erschöpfung, Panik und Euphorie, ein Zustand, in dem die Konturen der Realitätswahrnehmung verschwimmen: Es ist das Fieber des „Kriegskommunismus“.

Die Bewegung, mit der Serge zum Dissidenten wird, ist zunächst eine Differenz der Wahrnehmung. Er sieht zu genau. Ideologie, Opportunismus, Lust an der Macht funktionieren bei ihm nicht als prächtige Sichtblenden. Die Tiefenschärfe seines Blicks macht die Aufzeichnungen zum Zeitdokument: Er hält die Genese eines totalitären Regimes fest. Parallel zur Verfestigung der totalitären Strukturen gerät Serge ins Abseits. 1928 die erste Verhaftung, chancenlose Versuche, eine linke Opposition zu organisieren, 1933 bis 1936 Haft und Deportation, 1936 kurz vor Beginn der Schauprozesse die Emigration — eine sehr glimpfliche Variante des üblichen Schicksals eines selbständigen Kopfes in der Stalin-Zeit.

Serge ist ein präziser, hellwacher Chronist, dessen Aufzeichnungen prägnanter als jedes Geschichtsbuch die Sowjetunion der dreißiger Jahre schildern. Er seziert die Mechanismen des stalinistischen Terrors wie der ökonomischen Katastrophen, deren Folgen bis heute anhalten. Wer den sich beschleunigenden Zusammenbruch des Landes, die ökonomischen, mentalen, nationalistischen Verwerfungen begreifen will, kann auf die Berichte dieses Augenzeugen nicht verzichten. Seine Erinnerungen zeigen vor allem, was man als Zeitgenosse der sowjetischen Katastrophe wissen konnte. Sie zeugen von begrabenen, zerstörten Möglichkeiten und werfen ein eigentümliches Licht auf den schrecklichen Verlauf der Realgeschichte.

Victor Serge: Erinnerungen eines Revolutionärs . 480 Seiten, 10 Fotografien, 38DM, Edition Nautilus

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