DEBATTE: Der Süden meldet sich zurück
■ Die Angst vor einer islamischen Republik in Algerien verschleiert den Blick
Geht in Algerien alles mit demokratischen Dingen zu, errichten die Bärtigen von der Islamischen Heilsfront (FIS) nach dem 17.Januar die erste frei gewählte islamische Republik. Ein algerisches Paradox. Nach dem ersten Wahltag fehlen den Islamisten nur 28 Mandate zur absoluten Mehrheit.
Der Demokratievorbehalt ist angezeigt, weil die Armee, um deren Spitze die Bourgeoisie lagert, keine Anstalten macht, das Volksvotum zu akzeptieren. In der Nacht zum Mittwoch sind überall im Land Fallschirmjägereinheiten und für den inneren Einsatz trainierte Sonderdivisionen in Stellung gegangen. Die Generäle halten noch immer die FIS- Chefs Abassi Madani und Ali Ben Hadsch und eine unbekannte Zahl FIS-Kader gefangen.
Einen Vorwand für den Putsch könnte die Reaktion der „demokratischen“ Parteien auf ihre Wahlniederlage abgeben: Sie möchten den Wahlvorgang abbrechen, notfalls mit Gewalt. Der algerische Demokrat, sagt der Volksmund böse, aber weise, hat seine Koffer für die Emigration gepackt, schlägt seine Frau und hofft, daß ihn die Armee vor den Islamisten retten möge.
Der Okzident sieht das Treiben der Generäle mit Wohlgefallen. Eine islamische Republik am Mittelmeer gilt von Washington über Paris bis Bonn als „Katastrophenszenario“. Eine neue Version der amerikanischen Dominotheorie zirkuliert in den Außenministerien — sie sieht die absolute Monarchie Hassans II. von Marokko und die tunesische Militärdemokratie Ben Alis unter algerischem Einfluß kippen, Ägypten und Jordanien bedroht. Der 'Sunday Times‘ wurde Material über einen angeblichen algerisch-irakischen Atomwaffenpakt zugespielt. Der Internationale Währungsfonds stößt kaum kaschierte Warnungen aus. Und die französische Presse spricht von „schwarzer Cholera“.
Selbst unter den gequält verständnisvollen offiziellen Stellungnahmen lugt die nackte Panik hervor. Wieder einmal versinkt der Orient im Sumpf unserer Angst. Eine jahrhundertealte, dramatische Feindschaft verschleiert uns den Blick auf die Realitäten am anderen Ufer des Mare Nostrum. Es ist jene Art intensiven Hasses, die entsteht, wenn zuviel Faszination und eine alte Liaison im Spiele sind. Wir sehen hunderttausend Bärtige, die Hände vorm Gesicht für die Fatiha, sie werfen sich in den Staub, und wir denken an handabhackende Integristen, Fanatiker, frauenverbannende Machos.
Und es gehört zum guten Ton der Neuen Weltordnung, Völker, die sich gegen die Modelle der herrschenden, okzidentalen Nationen entscheiden, für „politisch unreif“ und insgesamt kaum zurechnungsfähig zu erklären. Dieser Paternalismus wird auch dadurch nicht besser, daß ihn das lokale Bildungsbürgertum fleißig spiegelt.
Die AlgerierInnen wußten, was sie taten. In ihrer Wahl liegt keine Ambivalenz, Zahlenakrobatik des FLN hin, konstruierte Unregelmäßigkeiten her. Seit Juni 1990 beobachten — und erleiden — die AlgerierInnen die Islamisten bei der oft unglücklichen Machtausübung. Das FLN-Regime und die Armee ließen über dem Wahlgang die Drohung eines Blutbades schweben. Sie haben im Juni die Strukturen der FIS zerschlagen, 8.000 FIS-Mitglieder verhaftet, darunter 200 gewählte Bürgermeister, die Wahlen verschoben. Die FIS-Zeitungen wurden verboten, ein General übernahm das Innenministerium, und eine Gesetzesnovelle erlaubte den Einsatz der Armee auch ohne Ausnahmezustand. Die Wahlkarte wurde so zurechtgebogen, daß die Stimme in einer FIS- Hochburg bis zu zehnmal weniger wog, als das Votum in einer FLN- Region. Die Islamisten taten das Ihrige: Virulente Hetzpredigten, Angriff im Ramadan auf Musikveranstaltungen und Theater, innere Streitereien. Bis zehn Tage vor der Wahl war nicht mal klar, ob sich die Islamisten überhaupt zur Wahl stellen würden.
Während der Wahlen sah ich in Annaba, im Osten Algeriens, vor den Wahllokalen aufgeräumte Gruppen junger Frauen im Hidjab, die für die FIS einlegten. In meiner Gastfamilie waren vier von fünf Töchtern für die Islamisten, alle vier haben studiert, alle vier haben gutlöhnende Stellungen. Dieses Phänomen und den massenweisen Zulauf der Islamisten kann nicht erklären, wer sich mit dem religiösen Analysebesteck der Sache nähert. Halbgare Analysen wie „die Rückkehr des Religiösen“, „Fundamentalismus“ oder „Revolte der Analphabeten“ zielen an der Substanz des radikalen Islam vorbei. Die FIS zieht ihre Legitimation nicht aus dem Koran, sondern aus der harten Ablehnung einer Ordnung, die den meisten AlgerierInnen die Zukunft zu verbauen scheint. Der radikale Islam ist die Rückeroberung eines politischen Raumes, den die Herrschenden dem Volk nach der Revolution entrissen haben. Er ist, über diesen religiös getarnten Klassenkampf hinaus, identitäre Bewegung und antikolonialer Kampf: Die AlgerierInnen gehen in die Moschee, nicht weil man dort von Gott spricht, sondern weil sie ein Freiraum ist, für eine Sprache, eine Identität, die sich dem Zugriff des übermächtigen Okzidentes entzogen haben. Der radikale Islam ist das Buchstabieren einer eigenen Geschichte und Identität im Schatten der Moschee mit den notdürftigen Mitteln, die nach 400 Jahren Türkenjoch, 132 Jahren französischer Kolonialherrschaft und 30 Jahren Blindnavigation im Weltmarkt noch zur Verfügung stehen. Er ist weniger regressive Romantik als der Versuch, sich die Modernität anzueignen. Das Programm der FIS enthält, für algerische Verhältnisse, sehr genaue Vorstellungen von Wirtschaftspolitik, Sozialstrukturen und Außenbeziehungen.
Der politische Islam erscheint uns als das terrain vague aller Gefahren. Er macht uns unser Monopol aufs Wort streitig. In ihm meldet sich der Süden zurück. Die radikalen Moslems erschweren uns die Sache, indem sie unsere Sprachregelungen verweigern. Mich beschleicht aber mitunter der Verdacht, daß sich hinter dem konstanten Willen, das Phänomen mißzuverstehen, das Arrangement der denkenden Köpfe Europas mit der letzten Versuchung steckt: der universellen Apartheid.
Was die Sache vertrackt macht, ist die Doppelgesichtigkeit des Islamismus: Gegen außen eindeutig emanzipatorisch, trägt er gegen innen den Kern einer totalitären Versuchung mit sich.
Die halbe Million DemonstrantInnen für die Demokratie von letzter Woche in Algier fürchten um ihre individuellen Freiheiten wie das Recht auf freie Berufsausübung für Frauen, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit etc. Symbolisches Schlachtfeld: die Frauenrolle und der Hidjab. Die Islamisten gaben ihnen, vorab den Frauen, manchen Anlaß zur Furcht. Sie zogen ihre Identitätskampagne um einen moralischen Rigorismus auf: kein Alkohol, Verschleierung der Frau, Rückweisung westlicher (verderblicher) Kultur. Grundmechanismus: Der vorgegaukelte westliche Reichtum und Lebenswandel ist für uns endgültig unerreichbar geworden. Er ist ein falsches Modell. Also ist auch sein kulturelles Modell (das nackte Mädchen in der Autowerbung) zurückzuweisen. Wir müssen uns auf unsere Möglichkeiten besinnen, wirtschaftlich und moralisch.
Daß dies vielen AlgerierInnen als der richtige Weg erscheint, liegt an den konkreten Lebensbedingungen. Wenn der Liter Whiskey 1.200 Dinar kostet, schert sich der Lehrer mit 4.000 Dinar Gehalt einen Dreck um ein Alkoholverbot. Wenn sich Triebstau, westliche Werbung und traditionelle Rollenmuster zusammentun, ist für die Frau aus dem Volk der Hidjab kein Problem: „Er befreit mich“, sagte mir jene Studentin der islamischen Universität von Constantine, „von zahlreichen Zwängen und eröffnet mir neue Bewegungsfelder. Vorher sagte mein Vater: Du gehst nicht aus dem Haus. Heute sagt er: Hast du den Hidjab an? Der wissenschaftliche Islam ist mein Schild und mein Schwert.“
Zudem baut sich jede Republik, auch die islamische, auf eine konkrete gesellschaftliche Realität.
Die FIS-Islamisten müssen nicht nur mit einer feindlichen Armee, massivem Druck von außen und einem rebellischen Volk rechnen. „Worauf es wirklich ankommt“, sagt der marxistische Historiker Mohammed Harbi, „ist die ungelöste Strukturkrise des algerischen Kapitalismus und damit der ganzen Gesellschaft. Daran, also an der Umverteilung, kommt niemand vorbei.“ Oliver Fahrni
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