Gute Chancen für Bulgariens Präsidenten

Morgen finden in dem Balkanstaat die ersten freien Präsidentschaftswahlen statt/ Staatspräsident Schelju Schelew, Symbol des friedlichen Umbruchs, tritt gegen 21 Mitbewerber an/ Gegenkandidaten setzen auf die nationalistische Karte  ■ Aus Sofia Ralf Petrov

„Einer für alle, alle gegen einen“, so bezeichnet die Tageszeitung 'Demokrazija‘ das Motto des Wahlkampfes der ersten direkten Präsidentschaftswahlen Bulgariens. Die Chancen für den „einen“, den gegenwärtigen Staatspräsidenten Schelju Schelew, bei den morgigen Wahlen im Amt bestätigt zu werden, stehen gut. Trotz der nicht nur für Bulgarien überaus großen Bewerberzahl — 22 Zweierteams kandidieren für die Präsident- und Vizepräsidentschaft — rechnen die großen Meinungsforschungsinstitute mit 56 bis 60 Prozent der Stimmen für Schelew und die sich mit ihm für den Posten des Vize bewerbende Dichterin und ehemalige Dissidentin Blaga Dimitrova.

Alle übrigen Kandidaten haben ihre Wahlkampfpropaganda ausschließlich auf die Kritik Schelews abgestellt. Schelew kandidiert für die regierende „Union der Demokratischen Kräfte“ (UDK), die aus der ehemaligen Koalition oppositioneller und antikommunistischer Kräfte hervorging und deren Vorsitzender er einst selbst war.

Elf weitere politischen Organisationen und Parteien unterstützen ihn ihm Wahlkampf, darunter auch die „Bewegung für Recht und Freiheit“, drittgrößte Gruppierung im bulgarischen Parlament. Dies festigte seine Erfolgschancen — doch die Unterstützung durch die türkische Minderheit erboste zusätzlich seine zahlreichen Konkurrenten, die fast ausschließlich auf die nationalistische Karte setzen. Sie haben angekündigt, sie wollten die Organisation der bulgarischen Türken im Falle eines Wahlsieges verbieten.

Die Karriere des 1945 in einem nordbulgarischen Dorf geborenen Schelju Schelew begann gradlinig: Abschluß des Philosophiestudiums an der Universität in Sofia im Jahre 1958, Tätigkeit als Sekretär der Komsomolorganisation in seinem Dorf, 1960 Eintritt in die Bulgarische Kommunistische Partei. Ein Jahr später erhielt er eine Assistentenstelle an der Sofioter Uni am Lehrstuhl „Dialektischer und historischer Materialismus“.

Doch während er an seiner Dissertation arbeitete, „führte er in seinen Veröffentlichungen und Diskussionen eine regelrechte antimarxistische Kampagne und verfälschte die Lehre des Marxismus-Leninismus“ — so die Begründung für seinen Parteiausschluß 1965. Schelew verlor seine Stelle an der Universität und wurde gezwungen, die Hauptstadt zu verlassen. Seine Dissertation zum ThemaDie Bestimmung der Materie und die moderne Naturwissenschaft durfte er nicht mehr verteidigen.

1972 kehrte Shelew nach Sofia zurück, arbeitete am philosphischen Institut der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften, wobei er, wie die Partei befand, „zeitweilig seine feindliche antikommunistische Tätigkeit“ unterband. 1982 erschien im Jugendverlag „Naredna Mladosch“ sein Buch Der Faschismus. Wegen der darin enthaltenen Parallelen zwischen dem faschisischen totalitären Regime und den modernen sozialistischen Staaten wurde der Vertrieb des Buches durch das ZK der BKP unterbunden.

Die Distanzierung Schelews von den Ideen des Marxismus-Leninismus und sein Verständnis der wissenschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung Bulgariens ließ ihn ironisch feststellen, es gäbe nur zwei Arten von Sozialismus: einen realen und einen wissenschaftlichen. Der reale sei nicht wissenschaftlich und der wissenschaftliche sei nicht real. Zur Zeit der Pseudo-Transparenz und Umgestaltung in Bulgarien, die in Folge des Reformkurses unter Gorbatschow in der Sowjetunion eintraten, aktivierte Shelew seine Kritiken an den herrschenden Mißständen in zahlreichen Veröffentlichungen und Diskussionen. Er beteiligte sich an der Gründung des „Gesellschaftlichen Komitees zum ökologischen Schutz der Donaustadt Russe“, aus dem sich später die Bürgerinitiative „Ökoglasnost“ herausbildete, sowie an der Bildung des „Klubs zur Unterstützung von Glasnost und Perestroika in Bulgarien“.

Nach der Wende in Bulgarien im November 1989 bemühte sich Schelew um die Schaffung einer einheitlichen antitotalitären Koalition. Am 7.Dezember 1989 wurde er zum Vorsitzenden der neugegründeten UDK, der ersten große antikommunistische Organisation in Bulgarien, gewählt. Als Abgeordneter der UDK nach den ersten freien Parlamentswahlen wurde Schelew am 1.August 1990 von der Volksversammlung zum Staatspräsidenten ernannt. Seine Wahl, so heißt es in Bulgarien, sei beim sogenannten „bunten Politbüro“, vom damaligen Runden Tisch vorprogrammiert gewesen. Denn die Regierung wurde ausschließlich von Kommunisten gebildet und der Posten des Staatspräsidenten war als Ausgleich durch einen Oppositionellen zu besetzen.

Der Ausgleich aber wurde zum Motto der Tätigkeit des neuen Präsidenten. Mit viel Feingefühl, Vorsicht und Toleranz versuchte er das sich in zwei feindlich eingestellte Lager gespaltene bulgarische Volk im Namen einer besseren Zukunft zu vereinen. Er vermied trotz zugespitzter Lage ein Blutvergießen wie in Rumänien und er öffnete das Jahrzehnte in der Isolation liegende Bulgarien wieder zur Welt. Er war der erste Stasatspräsident, der den Moskauer Putsch mit seinem echten Namen nannte.

Bei all dem blieb Schelew bescheiden und ohne Starallüren. Nicht alle Bulgaren mögen ihn, doch keiner zweifelt daran, daß er dem Balkanland Kredit gebracht hat. So ist er, ähnlich wie Vaclav Havel, zu einem Symbol der Umbruchszeit Bulgariens geworden.