: Pas de la merde
■ Ein Paket mit sechs neuen französischen Platten
Warum macht eine Plattenfirma so etwas? Zudem ein international agierender Multi wie Virgin Records: Schnürt ein Paket aus sechs mittelmäßig kommerziellen französischen Platten und veröffentlicht es mit nicht unerheblichem Werbeaufwand in Deutschland. Was soll das?
Natürlich, der Chef der Virgin ist ein Verrückter namens Richard Branson, der am liebsten bei Powerboot-Rennen oder Ballon-Expeditionen sein Leben aufs Spiel setzt. Aber sein Konzern ist dennoch kein Wohltätigkeitsunternehmen, sondern auf Gewinn und sonst nichts ausgerichtet. Es muß also entweder etwas Besonderes an diesen Platten aus Frankreich sein oder eine langfristige Taktik dahinterstecken. Beides ist der Fall.
Unter dem bemerkenswert selbstironischen Titel C'est pas de la merde haben die Manager von Virgin sechs vollkommen unterschiedliche Künstler und deren neueste Alben zusammengefaßt: Dabei sind eingeführte Bands wie Mano Negra, eklektische, multilinguale Pariser Punkrock-Band, mit einer Kollektion ihrer spanischsprachigen Stücke unter dem Titel Amerika perdida (eine eher launige Einstimmung auf ihre anstehende Tour durch Südamerika), oder Les Negresses Vertes, eklektische, vielköpfige provencalische Punkfolk-Band, deren verdienter Ruhm ohnehin schon bis Deutschland reicht. Auch Julien Clerc, altgedienter Chansonnier, dessen Hits Ma preference oder Ce n'est rien selbst von deutschen Radioredakteuren immer wieder gerne im Vormittagsprogramm eingesetzt werden, gehört dazu. Sein Album Amours secrètes ... passion publique enthält charismatische und, was Arrangement und Instrumentierung angeht, angenehm entschlackte Live-Versionen seiner Hits sowie einiger neuer Stücke; modernes französisches Chanson, zwischen Versponnenheit, lyrischen Höhenflügen und großer Pose. Ein geschmacklicher Ausrutscher im Sechser-Pack ist Paris ailleurs von Etienne Daho, mit dem Virgin Records dem französischen Faible für angestaubte Rockmusik huldigt, die Schmalzstullen immer noch cool findet und Johnny Hallyday für den King hält.
Interessanter sind die Alben von Renaud und Liane Foly, zwei in Deutschland noch weitgehend unbekannten Künstlern. Beide haben ihre Platte in London aufgenommen, beide engagierten eine internationale Crew aus Musikern und Produzenten, und beide haben sich dennoch nicht dem internationalen Popdiktat gebeugt, sondern eigenständige, bislang ungehörte Musik gemacht. Während sich Liane Foly mit Reve orange vorsichtig Richtung Jazz orientiert und in den schönsten Momenten eine eigenartige Schwüle erzeugt, die man nur mit der verhaltenen Erotik guten Souls vergleichen kann, hat Renaud auf Marchand de cailloux eine Mischung aus Chanson, Rock und viel bretonischer Folklore komponiert, die in ihrer ständig überbordenden Ideenfülle an Bob Geldofs großartiges letztes Album Vegetarians Of Love erinnert. Was kein Zufall ist, singt doch Geldof im Background-Chor. Mit dem französischen Chansonnier Renaud und dem zu unrecht verunglimpften Briten Geldof haben sich zwei Brüder im Geiste gefunden und ein gemeinsames Statement gegen Vereinheitlichung, für den Erhalt musikalischer Traditionen und — vor allem — für uneingeschränkte künstlerische Freiheit aufgenommen.
Doch warum veröffentlicht Virgin Records eine solch skurrile Sechser-Mischung aus Chanson, Rock 'n' Roll, Folk und Punk, aus Newcomern, Stars und Ladenhütern ausgerechnet jetzt, und was ist die Taktik hinter diesem Coup? Zwei Gründe sind möglich: Entweder suchen die Manager des Konzerns verzweifelt nach Abschreibungsobjekten, um die Hit-Millionen von Enigma und Genesis vor dem Finanzamt zu retten, oder sie haben entdeckt, daß Frankreich nicht länger ein Entwicklungsland in Sachen Popmusik ist. Diese Erkenntnis käme erfreulich rechtzeitig für einen gewöhnlich eher behäbigen Multi wie Virgin. Denn längst hat Paris zur früheren Pophauptstadt London aufgeschlossen und besitzt eine lebendige Musikszene, wie man sie in anderen europäischen Metropolen vergeblich sucht. Aus dem gesamten französischen Sprachraum, der sowohl afrikanische Staaten sowie Teile Kanadas, Louisianas oder der Karibik umfaßt, treffen Rhythmen, Traditionen und Ideen in Paris zusammen. Das bedeutet neben Spannungen, Gewalt und Vorurteilen auch manchmal gegenseitige Befruchtung. Zudem beginnen allmählich die massiven, auch finanziellen Aktionen des Kulturministers Jack Lang zur Stärkung französischer populärer Musik sowie die Radioquote zugunsten frankophoner Produkte zu wirken.
Frankreich hat inzwischen eine Menge mehr zu bieten als bloß den Lolita-Singsang einer Vanessa Paradis, das Tanz-Theater einer Guesch Patti oder bestenfalls den ausgeklinkten Elektro-Rock von Rita Mitsouko. In Paris existiert und wächst ein vielfältiges Spektrum populärer Musik, das dem in London oder New York durchaus ebenbürtig ist.
Wenn nun die Manager von Virgin Records das erkannt haben und so massiv wie zur Zeit versuchen, französische Musik in Deutschland populär zu machen, könnte das ein erstes Signal sein, daß die eingefahrene popmusikalische Einbahnstraße USA-England-Deutschland allmählich aufgebrochen wird. Eine erbauliche Vision. Christoph Becker
—Julien Clerc: Amours secrètes ... passion publique.
—Etienne Daho: Paris ailleurs.
—Liane Foly: Reve orange.
—Renaud: Marchand de cailloux.
—Mano Negra: Amerika perdida.
—Les Negresses Vertes: Familles nombreuses.
Alle Virgin Records.
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