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Zur falschen Zeit geboren

Die Erinnerungen des jüdischen Journalisten Herbert Freeden  ■ Von Elke Schubert

Skepsis ist angebracht, wenn der Buchmarkt mit einer weiteren Autobiographie eines Journalisten bedacht wird, den das Geburtsdatum und die Herkunft, oft gepaart mit politischem Engagement, auf die Seite derjenigen verschlagen hat, die in den dreißiger und vierziger Jahren Deutschland ohne Rückfahrkarte verlassen mußten. Allzu häufig begegnet man der Auflistung von tausendmal gelesenen Geschichten und Begegnungen mit berühmten Personen des Exils. Mag für jeden einzelnen das Leben auch eine Kette von Abenteuern und Demütigungen, ja oft genug auch lebensbedrohlichen Gefahren gewesen sein, in der Fülle der Exil-Biographien gerät es zum Immergleichen und wird, dem Thema so gar nicht angemessen, schlicht langweilig.

Doch es geht auch anders. Dann nämlich, wenn der Journalist das literarische Handwerk beherrscht, sein aufgezeichnetes Leben also nicht so aussieht wie eine Sammlung von Zeitungsartikeln; wenn er auch die scheinbar nebensächlichen, aber dafür um so erhellenderen Begebenheiten einbezieht, seine Freundschaften, ein bestimmtes Lebensgefühl, und wenn er zum unbestechlichen Beobachter der Bewohner Deutschlands in Vor- und Nachkriegszeit taugt.

Der Journalist Herbert Freeden, der heute in Israel lebt, ist so jemand. Er bereichert seine Autobiographie mit einem bisweilen sarkastisch-ironischen Tonfall, der auch vor den Absurditäten des Lebens nicht zurückschreckt. Bekannt geworden ist Freeden durch sein Buch über den Jüdischen Kulturbund, dem er angehörte und dessen kritischer Chronist er war. Leben zur falschen Zeit heißt sein Buch, und der Titel ist Programm; zeigt er doch anhand seiner Biographie, daß den meisten Juden, die fliehen mußten, von den Nazis erst die Auseinandersetzung mit der Politik aufgedrängt wurde. „Wir beschäftigten uns nicht mit Politik. Aber die Politik beschäftigte sich mit uns“, hat Günther Anders einmal in einem autobiographischen Interview gesagt. Das trifft auch auf Freeden und viele andere zu, die in bürgerlichen, assimilierten Familien aufwuchsen und sich ihrer jüdischen Herkunft erst nach der Machtergreifung der Nazis bewußt wurden.

Freeden hat bis zu seiner Flucht nach England für den Jüdischen Kulturbund als Programmberater und Regieassistent gearbeitet. Der Kulturbund war gegründet worden, um den zahllosen jüdischen Künstlern nach 1933 eine Arbeitsmöglichkeit zu bieten. Denn innerhalb kürzester Zeit waren viele Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner und Musiker von den neuen Machthabern aus ihren Engagements vertrieben worden. In der Geschichte des Kulturbundes spiegelt sich die infame, aber genau kalkulierte Politik der Nationalsozialisten wider. Hatten sie 1933 den Kulturbund eher widerwillig und unter der Bedingung genehmigt, nur Juden als aktive und passive Mitglieder zuzulassen, so verwandelten sie ihn spätestens 1936— zur Zeit der Olympischen Spiele, als sie der Weltöffentlichkeit ein liberales und vorurteilsfreies Deutschland präsentieren wollten — in ein Instrument, mit dem sie das jüdische kulturelle Leben lenken konnten. Ein Dezernat im Propagandaministerium unter der Leitung von Hans Hinkel, der seinen Job mit Akribie ausfüllte, war eigens für die Veranstaltungen des Kulturbundes eingerichtet worden. Auf diese Weise entstand ein gewaltiger Apparat, der auch die jüdischen Buchhandlungen, die jüdische Presse und ihre Verlage kontrollierte. Jedes Theaterstück, das für den Spielplan vorgesehen war, mußte zur Genehmigung vorgelegt werden. Jede Zeile wurde überprüft, es durften nur jüdische Theaterstücke auf dem Spielplan stehen, und in den letzten Jahren mußte sogar das Wort „deutsch“ aus den Texten gestrichen werden. Für diejenigen, die das Programm gestalten mußten, ein schier unlösbares Problem. Als assimilierte Juden hatten sie vorher keinen Gedanken daran verschwendet, wodurch sich ein jüdisches Stück von anderen unterscheiden könnte. So war dann auch konsequenterweise nicht die Qualität der Stücke entscheidend, sondern ihre Spielbarkeit, und die Auswahl durch die Vorgaben des verantwortlichen Büros natürlich stark eingegrenzt.

Eindrücklich beschreibt Freeden die Auswirkungen der „Reichskristallnacht“ auch auf das jüdische Theater. Als selbst die unpolitischen Juden sich ihrer bedrohlichen Situation bewußt wurden, erhielt das Theater den Befehl von Goebbels und Hinkel, weiterzuspielen wie bisher. „Wir waren freiwillig in den Käfig der jüdischen Kulturorganisation gegangen, und nun hatte sich hinter uns die Falltür geschlossen — aus Vorstellungen wurden Zwangsvorstellungen... Unvergeßlich, der Abend der Wiedereröffnung. Im Dunkel des jüdischen Lebens leuchteten die Lichter des Theaters auf... Zuhause saßen die Frauen und warteten auf Nachricht von ihren verschleppten Männern und Söhnen, zuhause saßen die Menschen auf den Trümmern ihrer Existenz, und im jüdischen Theater mußten die Schauspieler einen Rumba tanzen, wie es die Szene erforderte.“

In seiner Biographie kündigt Freeden eine Revision seines Buches über den Kulturbund an, wegen seiner Zweifel nicht „an der Wichtigkeit, sondern an der Richtigkeit seiner Existenz... die Tatsache, daß der Kulturbund es unternahm, dieses Publikum in einen jüdischen, von den Nazis kontrollierten Rahmen zu spannen, hat den Behörden möglicherweise eine neue Richtung in der Judenpolitik gewiesen: die Juden begaben sich aus freien Stücken in eine reglementierte und überwachte Kulturorganisation.“ Leider hält Herbert Freeden sein Versprechen nicht ein, nur über ein paar Seiten wird ein grober Abriß der Geschichte des Kulturbundes bis zu seiner Auflösung gegeben. Gern hätte man mehr darüber erfahren, gerade von jemandem, der sich in der Nähe der Ereignisse befand. Denn die Existenz einer solchen Institution unter der Aufsicht eines Sonderbeauftragten der Nationalsozialisten mutet nicht nur mehr als zynisch an, und die bereitwillige Beteiligung der Künstler und Zuschauer erscheint uns heute unvorstellbar. Hier ist uns Freeden etwas schuldig geblieben. Vielleicht mag man das bedauern, aber für seine Biographie scheint es ihm nicht so wichtig gewesen zu sein. Und vielleicht wird ja daraus noch einmal ein eigenes Buch.

1941 schlossen sich endgültig die Pforten des Jüdischen Theaters, der Kulturbund wurde aufgelöst. Zahlreiche Mitglieder waren schon vorher geflohen, auch Freeden, dem die Situation schon 1939 keine andere Möglichkeit mehr ließ. Er nahm wie viele andere das Hilfsprogramm des englischen Premiers Lord Baldwin in Anspruch, das aber nur zu einem zeitlich begrenzten Aufenthalt in England einlud. „Niemand war weniger auf die Auswanderung vorbereitet als die deutschen Juden; sie waren gesetzestreue Bürger, selbst wenn die eigenen Behörden die Gesetze mißachteten. Die russischen Aristokraten hatten Juwelen in die Taschen gesteckt, als sie nach der Revolution von 1917 aus Rußland fliehen mußten. Die deutschen Juden machten genaue Listen von ihrem Schmuck und lieferten ihn ab.“ Die vorgeschriebenen zehn Reichsmark bildeten ihr einziges Vermögen. Freeden blieb bis in die fünfziger Jahre in England, als er sich entschloß, nach Israel auszuwandern.

Immer wieder hat er Deutschland aufgesucht, alte Freunde getroffen, als Korrespondent für deutsche Zeitungen gearbeitet, aber leben wollte er hier nicht mehr. Scheinbar nebensächliche Impressionen machen deutlich, warum er sich in Deutschland als Fremder fühlt, daß eine Wunde aufgerissen ist, die sich nicht mehr schließt. Vor allem weil die Bewohner dieses Landes nicht begriffen haben, daß es nicht um die Anklage Hitlers als des Schuldigen am millionenfachen Massenmord geht, sondern um die Reflexion über die eigene Beteiligung und Verantwortung. Da sitzen beispielsweise zwei Geschäftsleute im Zug, ein paar Jahre nach Kriegsende, und unterhalten sich über die Situation im Nachkriegsdeutschland. Zwar lehnen sie die grausamen Methoden der Judenvernichtung ab, weil das im Ausland nicht so gut aussehen würde, aber immer noch herrscht in ihnen die Genugtuung vor, sich ihrer potentiellen Geschäftskonkurrenz auf diese Weise entledigt zu haben. „Ihre Städte lagen in Trümmern, sie hatten für diese Trümmer einen hohen Preis gezahlt. Das einzige, was sie dafür erworben hatten, war die Abwesenheit der Juden. Sie waren entschlossen, an diesem Handel festzuhalten.“ An diesem Punkt verabschiedet sich Freeden von der Idee, in Deutschland an der Neuorganisation des Rundfunks mitzuarbeiten. Auf der anderen Seite verhehlt er nicht seine Befriedigung über die zertrümmerten Städte, die er als eine Art „kosmischen Ausgleich“ empfindet. Israel wird zum zweiten Fluchtpunkt, aber auch, trotz aller Widersprüche, die Freeden gegenüber dem jüdischen Staat empfindet, zur neuen Heimat. Wie in einem Kaleidoskop entfaltet er in dem Kapitel „Israel — welches Israel?“ Ereignisse und Begegnungen, die sein zwiespältiges Verhältnis zu diesem Staat begründen. Trotz allem ist es eine kritische Solidarität, die ihn veranlaßt, den Golfkrieg als Prüfstein zu sehen, an dem sich zeigen wird, wie Deutschland mit seiner Vergangenheit fertiggeworden ist. Mit negativem Befund: „Israel ist zum Juden unter den Staaten geworden“, an dessen bloßer Existenz sich immer wieder offenbart, daß fortschrittliche Deutsche zwar keine Antisemiten sind, aber ihre seit Generationen tradierten Vorurteile gegenüber Juden jetzt auf den Staat Israel projizieren. Die Großzügigkeit, die man anderen Staaten gegenüber an den Tag legt, macht vor Israel halt; es muß täglich beweisen, daß es überhaupt eine Existenzberechtigung hat.

So korrespondiert die Geschichte Israels mit der des eigenen Lebens. „Eines haben Israel und ich gemeinsam — wir sind beide zur falschen Zeit geboren.“

Herbert Freeden: Leben zur falschen Zeit. Transit Verlag, 277 S., geb., 38 DM

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