: Algerien wird unregierbar
■ Die Entmachtung Präsident Chadlis ist ein Zeichen der Zerrissenheit der Gesellschaft
Algerien wird unregierbar Die Entmachtung Präsident Chadlis ist ein Zeichen der Zerrissenheit der Gesellschaft
Es lag förmlich in der Luft. Nur ein unverbesserlicher Optimist konnte erwarten, daß die Mächtigen Algeriens tatenlos zusehen würden, wie das Volk sich einfach eine neue Regierung wählt. Und nach einem Machterhaltungsmechanismus sieht auch die konzertierte Aktion aus, in der Staatspräsident Chadli, Premierminister Ghozali und die Armee sich gegenseitig die Bälle der politischen Initiative zuwerfen. Chadli tritt zurück, Ghozali ruft die Armee, die Armee stellt Elitesoldaten vor wichtige Gebäude, ein Interimspräsident wird ernannt, und natürlich passiert das alles, wie jede politische Schweinerei in Algerien, aus Sorge um die Sicherheit der Bürger und der Demokratie und allerlei anderer schöner Dinge, die in diesem heruntergekommenen Staat kaum mehr als Fiktion darstellen.
Doch die Sache ist schwieriger, als sie erscheint. Sicher, es geht darum, den absehbaren Triumph der „Islamischen Heilsfront“ (FIS) am kommenden Donnerstag, beim zweiten Wahlgang der ersten freien Parlamentswahlen Algeriens, noch in letzter Minute zu verhindern: Nach Chadlis Rücktritt, so eine in letzter Zeit zu hörende Argumentation, müssen so bald wie möglich neue Präsidentschaftswahlen stattfinden, und die Parlamentswahlen könnten erst mal aufgeschoben werden. Nicht zu übersehen ist aber auch die extreme Kurzsichtigkeit dieses Manövers: Freie Präsidentschaftswahlen wird die FIS mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit gewinnen, und dies kann ja gerade nicht das Ziel der verdeckt operierenden Putschisten sein. Oder doch? Im verschwörungsbesessenen Algerien ist nichts undenkbar — auch nicht eine Allianz zwischen Militär und Islamisten, um das Unvermeidliche halbwegs geordnet und weniger spektakulär erscheinen zu lassen und die abzusehende Angst des Auslands vor einem „Iran am Mittelmeer“ von vornherein zu entschärfen.
Auch wer nicht an die segensreichen Wirkungen des Hintertreppenkomplotts glaubt, kann hier nur eines konstatieren: Algerien ist im Begriff, unregierbar zu werden, und ein höheres Ziel als die Verteidigung der eigenen Pfründe ist immer weniger zu erkennen. Mit was für einer Legitimität kann eigentlich jetzt, nachdem der algerische Volkswillen sich geäußert hat, irgendeine Regierung amtieren, die sich nicht der FIS öffnet? Und auch wenn die FIS doch noch an die Regierungsstühle gelangen sollte — wie soll sie einen Weg finden zwischen den Widerständen des Apparats und den Erwartungen ihrer Anhänger, ohne auf allen Seiten als unglaubwürdig zu erscheinen?
Die Zerrissenheit der algerischen Gesellschaft, die sich nun auch auf die algerische Politik ausgedehnt hat, wächst so zu einer Kluft an, die einen politischen Akteur nach dem anderen verschluckt. Ein zweites Iran ist unter diesen Vorzeichen nicht zu befürchten. Eher ein zweites Georgien. Dominic Johnson
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen