: „Wir gehören niemandem mehr“
■ Bei den Ex-Sowjetsoldaten in Ostdeutschland „herrscht Chaos“/ Rußland zahlt und befiehlt
Berlin (afp) — Oberst Wladimir Strelnikow ist der stellvertretende Befehlshaber über die 225.000 Soldaten der ehemals sowjetischen Westgruppe, die noch in Ostdeutschland stationiert sind. Das ist im Moment so ungefähr das einzige, was er sicher weiß. Denn die Zukunft der Soldaten und Offiziere der früher mächtigen Roten Armee ist ungewiß. „Wir gehören niemandem mehr“, faßt Oberst Strelnikow das Dilemma zusammen. Der Zusammenbruch der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) und die gegenwärtigen Streitigkeiten zwischen den Republiken der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) um den militärischen Führungsanspruch hat die Truppen in große Unsicherheit gestürzt.
„Was hier stattfindet, das ist das absolute Chaos“, beklagt sich der Kommandant des Regimentes bei Neuruppin nördlich von Berlin, Witscheslaw Bajew. „Einen Tag erfahren wir, daß wir die baltischen Rekruten wieder nach Hause schicken sollen, am nächsten Tag heißt es, die Ukraine weigert sich, uns Soldaten zu schicken“, erzählt Bajew. Denn während der Truppenabzug weitergeht, werden auf Befehl des russischen Präsidenten Boris Jelzin immer noch neue Rekruten in die ehemalige DDR geschickt.
Einzig Armenien und Aserbaidschan erfüllten das Soll an Soldaten, erklärt Bajew. Die beiden Republiken, die miteinander im dauernden blutigen Konflikt um die armenische Enklave Nagorny-Karabach liegen, forderten regelrecht, daß ihre Leute zu Fallschirmspringern oder Marineinfanteristen ausgebildet werden. Damit würden die Soldaten schon jetzt in Vorbereitung auf einen möglichen Krieg zwischen den beiden Nationalitäten ausgebildet, meint ein hoher deutscher Offizier, der nicht genannt werden wollte.
Gespannt warten die Regimenter in Ostdeutschland auf die Entscheidung, ob sich die GUS-Republiken für den Fortbestand einer gemeinsamen Streitmacht entscheiden. „Gegenwärtig erteilt Rußland die Befehle, weil sie die einzige Republik ist, die uns den Sold bezahlen kann“, sagt Oberst Strelnikow. So weht denn auch die russische Fahne über dem Hauptquartier in Wünsdorf und auf den Dächern der Kasernen. Doch die Finanzknappheit zwingt die Truppen, weiter ihre alten sowjetischen Uniformen zu tragen. Neu ankommende Rekruten werden auf die russische Fahne vereidigt, was zu Spannungen mit den nichtrussischen Soldaten führt.
Trotzdem haben es die 225.000 Soldaten der ehemals 400.000 Mann starken Westgruppe mitsamt ihrer 160.000 Familienangehörigen nicht eilig, ihren bereits heimgekehrten Kameraden zu folgen. „Ich lasse mir Zeit mit der Heimkehr, denn mit der Freigabe der Preise wird mein Sold zu Hause gerade mal für ein Paar Schuhe reichen“, brummelt Oberst Strelnikow. „Keiner hat mehr Hemmungen, sich bei den Vorgesetzten anzubiedern“, erzählt eine Offiziersfrau, deren Mann bei Neuruppin stationiert ist. Die Truppenangehörigen täten alles, um in Ostdeutschland bleiben zu können. Man schwärze sich gegenseitig beim Generalstab an, es gebe plötzlich Neid und Eifersucht unter den Familien.
Die Soldaten sparen ihre D-Mark- Devisen, um sie bei der letztendlich unvermeidlichen Heimkehr — Ende 1994 soll der Abzug abgeschlossen sein — auf dem Schwarzmarkt zu einem möglichst hohen Rubelkurs umtauschen zu können. Einige Republiken wie die Ukraine, so haben sie gehört, verweigern den heimkehrenden Soldaten die für sie vorgesehenen Wohnungen, die mit deutscher Hilfe gebaut werden. Sie würden an arme Familien vergeben, heißt es.
So bauen die Soldaten und Offiziere auf die Hoffnung, daß es doch bei einer einheitlichen großen Armee bleibt. Nur dies würde sie bei der Heimkehr vor trostlosen ökonomischen Verhältnissen bewahren. Yacine Le Forrestier
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