Die Bauten am Rande

■ Über den Umgang mit einer alten Stadt: Denkmalpflege mißachtet die Vorstädte und Industrieanlagen / Ab morgen im Focke-Museum: Die Geschichte der HAG-Fabrik

Im Bremer Holzhafen liegt, nahezu vergessen, die alte Fabrik der Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft (HAG). Stünde sie noch so, wie Hugo Wagner sie 1907 entworfen hat, würde das hiesige Amt für Denkmalpflege ihr den Status eines Kulturdenkmals einräumen. Sie ist aber mehrmals und nicht unerheblich umgebaut worden. Umstritten ist, ob das ihre Bedeutung mindert. Das Focke-Museum zeigt ab morgen die Geschichte des Baus. In dem Katalog, der dazu erscheinen wird, ist ein Gutachten des Denkmalamtes abgedruckt, in dem die Kaffeefabrik gerade wegen der Umbauten als nicht erhaltungswürdig eingeschätzt wird. Gegen diese Sichtweise wendet sich unser Autor, der die Ausstellung mit vorbereitet hat.

In Bremen formen neben Dom, Rathaus und Schütting die Bauten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts das Stadtbild. Das „Bremer Haus“ und die ländlichen Villen in Schwachhausen geben der Stadt Identität, unterscheiden sie von Bochum und Berlin. Bremens Denkmalpfleger jedoch sehen die Dinge anders. Sie interessieren sich nicht für das Ganze, sondern für das einzelne Kunstwerk, für das Objekt. Mit besonderer Sorgfalt kümmern sie sich um wenige Bauten, die zumeist nicht in ihrem Bestand bedroht sind. Diese Sichtweise ist genauso verbreitet wie verhängnisvoll: die Vorstädte und die Industrieanlagen werden mißachtet, die sogenannten innerstädtischen Traditionsinseln dagegen liebevoll erhalten. Die nicht nur in Bremen zu beobachtende Entwicklung hat dazu geführt, daß in einer Betonumgebung und zwischen breiten, sogenannten Verkehrstangenten Altstadt-Fragmente verharren. Die Häuser, denen ihre angestammte Umgebung genommen wurde, geraten zur innerstädtischen Folklore. Die zahlreichen Bauten dagegen, die am Rande liegen, die zur Wirkung des Ganzen wesentlich beitragen (ohne je folkloristisch zu erscheinen), werden kaum wahrgenommen, verschwinden trotz Bürgerproteste. Das Weserwehr wurde diesem Denken genauso geopfert wie die Senatsvilla.

Als jüngstes Beispiel für die Bevorzugung innerstädtischer Kunstobjekte gegenüber vorstädtischer Gebrauchsarchitektur darf die Kaffee-Hag-Fabrik gelten, die der Reformarchitekt Hugo Wagner 1907 am Fabrikenufer fertiggestellt hat. Mit diesem Bau begann die moderne Architektur in Bremen. Er ist eine deutliche Landmarke im Hafengebiet, bestimmt zusammen mit der Rolandmühle die Eigenheit des Holzhafens. Die Fabrik wird nicht unter Schutz gestellt — lautet das Fazit eines Denkmal-Gutachtens vom Oktober letzten Jahres. Sie sei in ihrem Aussehen zu stark verändert worden, habe deswegen keinen Anspruch auf Schutz. Darin liegt eine weitere Eigenart nicht nur der Bremer Denkmalpfleger: Ein Bauwerk sei ein autonomes Kunstwerk, das von allen späteren Veränderungen, so gut sie auch immer sein mögen, beschädigt wird. Ein Bauwerk sei wie ein Bild zu beurteilen. Diese Sichtweise verkennt, daß Architektur von den Menschen als alltägliche Umgebung aufgenommen wird, daß sie als gute oder schlechte Umwelt erscheint. Architektur steht in der öffentlichen Diskussion; Erhaltung oder Abriß sind zutiefst öffentliche Anliegen.

Längst verringern Hochgeschwindigkeitszüge genauso wie gesichtslose Architektur und internationale Ladenketten die Differenz zwischen den Orten. Die Eigenheiten der Regionen verschwinden mehr und mehr. Das wertvolle Gut Differenz wird nicht zuletzt von historischer Architektur erzeugt und bewahrt. Viele Denkmalpfleger jedoch betrachten Architektur als Expertensache, als Bestandteil eines diffiziellen kunsthistorischen Diskurses, der mit dem schlichten Alltag wenig gemein hat. Deswegen ist ihnen oftmals gleichgültig, welche Bauten innerhalb der Innenstadt erhalten bleiben, welche Ganzheit mit ihnen verloren geht. Sie kümmern sich um Kunstwerke, nicht um Lebensqualität. Noch immer stehen in Bremen viele Bauten von hoher Qualität, Bauten, die — aus welchen Gründen auch immer — eine Kunstwerk-Eigenschaft nicht zugesprochen bekommen. Diese Bauten, die zu Bremens ganzheitlicher Schönheit wesentlich beitragen, sind latent bedroht. Wenn die Denkmalpfleger weiterhin an den wenigen Einzelbauten bosseln, die noch im Originalzustand erhalten sind, an Einzelbauten, die bei ihnen als Kunstwerke durchgehen, dann wird das Stadtbild mehr und mehr seine Eigenart verlieren. Wenn auch die letzte Instanz, die abrißwillige Bauunternehmer in ihre Schranken weisen könnte, sich bremisch vornehm zurückhält, dann wird die Stadt eines Tages nicht mehr von Hannover, Kassel oder Oberhausen zu unterscheiden sein. Nils Aschenbeck