: Zwischen Himmel und Untergrund
■ Der Kurt-Schumacher-Platz in Reinickendorf entstand nach dem Zweiten Weltkrieg/ Trostlosigkeit trotz Umgestaltung/ Lärmbelastung durch die Anflugschneise von Tegel/ Ehemalige Landstraße
Reinickendorf. Plötzlich erfüllt ein Donnern die Luft. Am Dönerstand neben dem U-Bahn-Eingang wird es laut und hektisch. Nur noch schreiend kann sich der Verkäufer mit seinem Kunden verständigen. Wer als Fremder zum ersten Mal aus dem Schacht tritt, blickt erschrocken gen Himmel. Bedrohlich nah ist einen Augenblick lang der graue Bauch einer Düsenmaschine. Die Scheinwerfer der Tragfläche durchschneiden die abendliche Dunkelheit. Dann ist der Spuk vorbei, kehrt wieder Ruhe ein am Dönerstand.
Alltag am Kurt-Schumacher- Platz seit Jahrzehnten. Der Flughafen Tegel, in dessen Anflugschneise der Platz liegt und dessen heller Lichtkegel zum vertrauten Anblick gehört, prägte von Anfang an den Platz. Kein Haus ist höher als zwei Stockwerke, auf einigen Dächern weisen rote Lampen den dröhnenden Maschinen den Weg. 1975 nahm der Lärm noch einmal erheblich zu. Das war das Jahr, als Tegel nach umfangreichen Umbauarbeiten Tempelhof als zentralen Berliner Zivilflughafen endgültig ablöste.
Aber auch sonst ist es hier mehr als unruhig. Gleich vier Straßen, der Kurt-Schumacher-Damm, die beiden Einmündungen der Scharnweber- und die Ollenhauerstraße stoßen auf den Platz, zerschneiden und zerstückeln ihn. Zum Verweilen lädt er nicht ein.
Brummend und stinkend schiebt sich der Vehrkehr vorbei, der an manchen Tagen zu kollabieren droht, seitdem die Scharnweberstraße im Kreuzungsbereich eingeengt wurde. Nun gibt es hier immer wieder starke Rückstaus, von denen auch der Kurt-Schumacher-Platz betroffen ist.
Ein altbekanntes Problem. Schon im Sommer 1959 beklagte die damalige Berliner Zeitung 'Der Tag‘ Staus von einem Kilometer Länge auf der Scharnweberstraße. Der Grund damals: die Bautätigkeiten im Berliner Norden und die ständig wachsende Bevölkerungszahl des noch jungen Bezirks. Heute leben rund 250.000 Menschen in Reinickendorf, ein Großteil von ihnen ist motorisiert. Hinzu kommt, daß nach der Fertigstellung des Autobahnzubringers die Verkehrsdichte auf dem Kurt-Schumacher-Damm zugenommen hat.
Als Reinickendorf 1920 Berlin eingemeindet wurde, herrschte, wo heute der Platz liegt, eine kaum noch vorstellbare Idylle. Statt des heute vielbefahrenen Kurt-Schumacher Damms und der Ollenhauer Straße gab es hier nur zwei holprige Landstraßen, den Tegeler Weg und die Berliner Straße. Nur einzelne Gebäude säumten die Straßen, und in der Nähe wurde noch Landwirtschaft betrieben. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die rasante Entwicklung ein. Nicht zuletzt dank der französischen Truppen. Sie richteten sich mit ihren Familien im »Quartier Napoleon« ein, das in unmittelbarer Nähe des Platzes liegt. Alsbald wurde aus dem Kurt-Schumacher-Damm eine »großzügige Großstadtstraße«, wie die 'Morgenpost‘ euphorisch im Mai 1963 schrieb.
Die ersten Jahre nach dem Krieg war der Platz so unbedeutend, daß er noch nicht einmal einen Namen trug. Erst 1955, mitten in den Zeiten des westdeutschen »Wirtschaftswunders«, das vor allem den Westberliner Norden mit seinen Borsigwerken und der Siemensstadt erfaßte, erhielt er den Namen jenes Mannes, der nach 1945 die westdeutsche SPD gegründet hatte. Nach der Namensgebung ging es Schlag auf Schlag. Im Juni 1958 wurde die U-Bahn-Station eingeweiht. Trotz großer Bautätigkeit (ständig wurden Straßen verengt oder verbreitert), blieb der Platz ein Sorgenkind des Bezirks. Das »Eingangstor nach Reinickendorf« verschandelte ab 1968 sogar eine Stahlhochbrücke, die über den Platz die Ollenhauerstraße mit dem Kurt- Schumacher-Damm verband. Sie wurde Anfang der achtziger Jahre abgerissen.
Schließlich erhielt eine Münchener Architektengruppe vom Bezirk den Zuschlag, den Platz umzugestalten. Der Planung kam entgegen, daß die vorhandene Bebauung nur spärlich und lückenhaft war. 1986 wurde das Einkaufszentrum »Clou« der Öffentlichkeit übergeben, drei Jahre darauf erhielt der Platz seine heutige, vorläufige Form. 15 Millionen investierten Land und Bezirk, um Brunnen zu bauen, Wein an Beton-Pergolen ranken zu lassen, Hochbeete aufzuschütten sowie Linden und Akazien zu pflanzen.
Trotzdem: Noch heute wirkt es, als hätte auch die nachträgliche Gesichtskorrektur nichts daran ändern können, daß der Platz weiterhin kalt und abweisend bleibt. Zwar herrscht nun tagsüber rege Betriebsamkeit. Aber nachts wird er so öde, wie die Fußgängerzone einer deutschen Kleinstadt. Daß das fast verschämt an den Rand gedrängte Denkmal für Kurt Schumacher im Blickfeld einer Bank, einer Imbißkette und einer nahe gelegenen Spielhalle steht, ist zugleich auch ein treffendes Sinnbild: Sie sind es, die am Verkehrsknotenpunkt allenthalben die Szenerie beherrschen. Daß sich unter der bunten Leuchtreklame jemals ein Mensch wohlfühlen sollte, war offenbar nie vorgesehen. Hier gilt die Devise: aussteigen, einkaufen, umsteigen und wegfahren.
Nur einen Pluspunkt verzeichnet der Kurt-Schuhmacher-Platz. Wer ein Flugzeugfan ist, wird dort ganz gewiß keine Langeweile haben. Allerdings sollten vorsichtshalber Ohrstöpsel mitgenommen werden — gegen den Lärm von oben und von unten. Severin Weiland
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