Angriff auf die letzte Bastion der Demokratie

Italiens Nachkriegsrichter: Von „Rächern der Enterbten“ zu „Henkersknechten der Multis“?/ Mißachtete Unabhängigkeit  ■ Aus Rom Werner Raith

An Ehren- oder Schmachtiteln hat sich Italiens Justiz, so der einstigte Untersuchungsrichter und heutige Senator Imposimato, „seit Kriegsende so viele verdient wie kein anderer Stand in unserem Staat“: In den 50er Jahren waren die Richter überwiegend als „Rächer der Enterbten“ bekannt, die schon mal den Übergriffen der großen Feudalherren und Fabrikbesitzer Paroli boten. In den sechziger und siebziger Jahren galten sie umgekehrt der außerparlamentarischen Linken als „Erfüllungsgehilfen des Repressionsstaates“ oder gar als „Henkersknecht der Multis“ (Flugblatt der Roten Brigaden). Anfang der 80er Jahre wiederum bedankten sich zahlreiche Mitglieder der bewaffneten Gruppen und der „Autonomia operaia“ bei den Richtern, die nun die Ende der 70er Jahre von den verschreckten Politikern verabschiedeten „Kronzeugen“-Gesetze in Frage stellten. Auch die Ökobewegung kam nur mit Hilfe unkonventioneller Amtsrichter voran, die reihenweise Umweltsünder aus Wirtschaft und Politik in den Knast sperrten.

Derzeit hat die Justiz wieder weniger gute Karten. Die Attacken kommen allerdings nicht nur von Bürgern, die sich über die Freilassung notorischer Mafiosi aufregen. Hauptangreifer sind die Sozialisten, immerhin zweitgrößte Regierungspartei, vor allem aber Staatspräsident Francesco Cossiga, der dabei stark in Kontrast zu seiner eigenen christdemokratischen Partei steht, die eher nach einer kungelhaften Koexistenz mit den Justizbehörden sucht. Sozialisten wie Staatschef Cossiga kreiden Richtern und Staatsanwälten an, daß ihre Urteile häufig unliebsame politische Konsequenzen haben (was bei vielen Prozessen, etwa über Kungeleien mit allerlei Dunkelmännern oder organisiert Kriminellen, kaum vermeidbar ist)— vor allem aber, daß ihnen der Respekt vor anderen Institutionen fehle. So, wenn sich beispielsweise ein venezianischer Untersuchungsrichter erlaubt, den Staatschef wegen möglichen Wissens um verfassungswidrige Einrichtungen vorzuladen, oder wenn das Oberste Selbstverwaltungsorgan der Justiz, der Consiglio supremo della magistratura (CSM), Richterschelte des Staatspräsidenten oder des sozialistischen Justizministers Claudio Martelli öffentlich zurückweist. Cossiga, der qua Amt dem CSM vorsitzt, unterbindet daher schon mal unter Androhung von Carabinieri-Einsatz Sitzungen des Richterrates, weil dort ihm mißliebige Fragen behandelt werden sollen. „Ein letztes Bollwerk der Demokratie“, so erkannte die 'Times‘, „wird nun wohl sturmreif geschossen.“

Italiens Verfassung garantierte der Justiz bisher eine Unabhängigkeit, wie sie kaum ein anderes Land kennt: Alle sie betreffenden Fragen werden nicht durch Ministerien, sondern ausschließlich durch den Obersten Richterrat geregelt. Der CSM ist für Versetzungen und Kompetenzstreitigkeiten zuständig, kann Staatsanwälte, Untersuchungsrichter und sogar Gerichtspräsidenten wegen mangelnder Pflichterfüllung ebenso wie wegen „ambientaler Unvereinbarkeit“ abziehen — etwa wenn diese dauernd mit den Kollegen streiten oder in Gefahr von Befangenheit geraten. Gewählt wird das Gremium zu zwei Dritteln von den Staatsanwälten, Vorermittlern und Richtern aus ihren eigenen Reihen, der Rest wird mit Zweidrittelmehrheit vom Parlament bestimmt. Trotz ansehnlicher Versuche ist es den Parteien bisher nicht gelungen, die nichtpolitischen Mitglieder des CSM so zu unterwandern, daß der Richterrat — wie sonst alle anderen Körperschaften — auf das Kommando der politischen Fürsten hört.

Während Cossigas Wut auf die Richter wohl vor allem vom Angepinkeltwerden durch Untersuchungsbeamte und die darüber gezeigte Freude der CSM-Kollegen herrührt, hat die Feindschaft der Sozialisten gegenüber der Justiz schon Tradition: Seit Ende der 70er Jahre Untersuchungsrichter die Topfinanziers des PSI im Zuge von Waffen- und Drogenschiebereien ins Visier nahmen und der CSM sich weigerte, dies zu unterbinden, versuchen die Mannen des ehemaligen Ministerpräsidenten Bettino Craxi die Autonomie der Justiz insgesamt auf Null zu bringen.

Zum Beispiel gilt seit nunmehr zwei Jahren eine von den Sozialisten durchgepaukte Strafprozeßordnung und zwingt Richter immer wieder zu völlig absurden Entscheidungen — die zahlreichen Freilassungen sind etwa ausschließlich darauf zurückzuführen; ungeniert nutzt Craxis Partei dies aber zur Propaganda gegen angebliche Rechtsbeuger in den Gerichten. Kurz zuvor schon hatten die Sozialisten sich ein Referendum zur zivilrechtlichen Verantwortlichkeit bei Justizirrtümern zunutze gemacht: Statt, wie es das Volk wollte, mögliches Verschulden der Staatsanwälte und Richter durch ein unabhängiges Gremium untersuchen zu lassen, leitet nun der Justizminister das Verfahren ein — ein probates Druckmittel gegen freche Ermittler.

Doch auch diese Anbindung an die Politik genügt den Sozialisten noch nicht: Nun haben sie, im Zuge angeblich wildentschlossenen Kampfes gegen die Mafia, die Einführung einer „Super-General- Staatsanwaltschaft“ durchgesetzt, der alle anderen bisher absolut autonom arbeitenden Staatsanwaltschaften unterstellt werden. Diese neue Einrichtung hat Weisungsbefugnis— was bedeutet, daß man von Regierungsseite im Endeffekt nur den Super-General-Staatsanwalt unter Kontrolle haben muß, und schon können alle Ermittlungen, zum Beispiel gegen Politiker und deren Kumpane, unterdrückt werden.

Kein Zweifel: Das „Bollwerk der Demokratie“ wird unter solchen Umständen nicht mehr lange standhalten.