EUROFACETTEN
: Der Gulag in den Genen

■ Kein Vertrauen in den Rechtsstaat in der GUS

Das Gesetz ist eine Taiga und der Staatsanwalt der Bär darin.“ Volksweisheiten wie diese illustrieren die Erfahrungen des Sowjetmenschen mit Gesetzlichkeit und Rechtspflege. Unser gewaltiges Land, unlängst noch UdSSR, heute „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“, stellt meiner Auffassung nach auch jetzt noch ein ebenso gewaltiges Straflager dar, eine „Zone“, wie es bei uns heißt. Und dies nicht nur deshalb, weil die wohlkonservierten und in Stacheldraht verpackten Lager auch heute noch ungefähr den zehnten Teil des Urals, Sibiriens, des Kolyma-Deltas und Kamtschatkas einnehmen, sondern auch, weil sich der Gulag nach reichlich siebzig Jahren kommunistischen Regimes in unseren genetischen Code hineingeschraubt hat — und gleichzeitig mit ihm die Gesetzesverachtung und das Mißtrauen gegenüber der Justiz.

Kein Sowjetmensch, der nicht auf die eine oder andere Weise mit der „Zone“ in Kontakt gekommen wäre: Entweder hat er selbst eine Zeit „abgesessen“ oder seine Eltern, Freunde, Kollegen, Lehrer. Das ganze Land besteht aus Verwandten und Freunden von Sträflingen. Und auf dieser Voraussetzung beruht unsere paradoxe, ich würde sagen: freudianische Beziehung zu Justitia.

Nehmen wir nur einmal mein eigenes Beispiel: Ich, Galina Lapsina, bin Redakteurin, loyale Bürgerin, zur Zeit nicht Mitglied irgendeiner Opposition, ehemalige Pionierin und Komsomolzin, fürsorgliche Mutter meiner Tochter Anja, liebevolle Hausfrau für die Dogge Mäuschen und den Kater Christopher und leidenschaftliche Liebhaberin bitterer Schokolade und der Poesie des „Silbernen Zeitalters“. — Und dann bin ich noch Tochter eines politischen Häftlings, der in den Stalinschen Lagern zwanzig Jahre verbracht hat, aufgewachsen im fernsten Nordosten an der Kolyma, bei Magadan, wo wir auch nach seiner Entlassung in Verbannung blieben, aufgezogen von der Amme Stefa, die aus der Westukraine hierher zwangsdeportiert worden war, und getröstet von den benachbarten Kriminellen, die mir alle streunenden Kätzchen fingen, damit ich nicht vor Kälte weinte. Wer, wenn nicht ich, müßte verstehen, daß dieser Fleischwolf von sogenanntem Justizapparat— all diese Polizisten, Untersuchungsrichter und Staatsanwälte— nur darauf wartet, daß einer, nein, nicht etwa vom Wege abweicht, sondern bloß ein bißchen stolpert, um sich an seinem Blut vollzusaugen. Und dennoch war ich mein ganzes Leben lang damit beschäftigt, das Gesetz zu brechen. Ich habe es gebrochen, als ich meinen Mann vor dem mörderischen Dienst in der Armee rettete, als ich meine Tochter gegen Bestechungsgelder im Kindergarten unterbrachte, als ich die staatseigene Wohnung meiner Eltern verkaufte und mich an der Fakultät für Journalistik mit gefälschten Dokumenten immatrikulierte. Allein schon für das Aufgezählte stehen mir nach geltendem „Recht“ gut zehn Jahre Zwangsarbeit zu. All dies habe ich nur aus einem Grunde getan: um zu überleben. Ich sage dies als Erklärung und nicht als Rechtfertigung. Ich habe keine Angst. Meine Amme in Magadan ist noch immer wohlauf. Galina Lapsina

Die Autorin, 42, ist Redakteurin der Zeitschrift 'KRIK‘ (Abkürzung für „Kriminalchronik“, Homonym für „Schrei“).