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Übrig blieben graue Lappen

■ Nach den Schülern gingen auch Erwachsene gegen den Golfkrieg auf die Straße

Berlin. »Wir Kinder werden alles tun, damit der Krieg keine Zukunft hat«, war auf das acht Meter lange Transparent gemalt, hinter dem am Morgen des 16. Januar, wenige Stunden nach Beginn des Golfkrieges weit über 10.000 Schüler über den Kürfürstendamm marschierten. Die Landesschülervertretung sprach von der größten Jugenddemonstration, die es in Berlin je gegeben habe. Auch in den darauffolgenden Tagen ließen an die 30.000 Schüler den Unterricht sausen und gingen zum Teil in ganzen Klassen mit ihren Lehrern auf die Straße. Die Schulverwaltung reagierte gelassen, lediglich einige Rektoren versuchten die Jugendlichen am Verlassen des Schulgebäudes zu hindern, indem sie die Türen abschlossen. Die Protestaktionen, an denen sich auch immer mehr Erwachsene beteiligten, weiteten sich über die ganze Stadt aus. Vor Kirchen, Unis und Kindertagesstätten wurden Mahnwachen gehalten, das US- Headquarter in der Clayallee stundenlang blockiert. Studenten der HdK zogen eine Schweineblut-Spur durch die Innenstadt. Bei einer Großdemonstration, zu der Friedensgruppen und Gewerkschaften aufgerufen hatten, zogen 150.000 Menschen in einem Sternmarsch zum Brandenburger Tor. Auf dem Ku'damm kam es zu schweren Krawallen, weil eine Gruppe vermummter Jugendlicher aus dem autonomen Block ausscherte und mit Eisenstangen und Hämmern systematisch die Scheiben von Geschäften und Autos zertrümmerte.

Auch in der zweiten Woche nach Ausbruch des Golfkriegs bestimmten zahlreiche Protestaktionen die Stadt. Von Pankow bis Zehlendorf kam es immer wieder zu Straßenblockaden. Vor den Werkstoren von Siemens und Mercedes demonstrierten Anhänger autonomer Gruppen, Mitarbeiter selbstverwalteter Betriebe, Studenten und Schüler gegen Rüstungsexporte. Studenten des Fachbereichs Agrarwissenschaft kippten einen LKW voll Viehmist als »stinkende Blockade« vor die Tore der Firma Degussa, die den Irak mit Ausrüstungen für Chemiewaffen beliefert haben soll. Auf dem Ernst- Reuter-Platz errichteten Architektur-Studenten mit 300 weißen Holzkreuzen einen symbolischen Friedhof. Unvergessen sind auch die vielen weißen Bettlaken, die zahlreiche Mieter aus den Fenstern hängten. Ende März, als der Krieg schon einen Monat zu Ende war, baumelten die inzwischen grauen, unansehnlichen Lappen immer noch an den Fassaden.

Wie viele Ermittlungsverfahren noch im Zusammenhang mit Blockadeaktionen anhängig sind beziehungsweise wie viele Prozesse es schon gegeben hat, war bei der Staatsanwaltschaft nicht in Erfahrung zu bringen. Bekannt ist nur, daß ein 24jähriger Student im vergangenen Sommer wegen Widerstands bei der Blockade vor Siemens zu 300 Mark Geldstrafe verurteilt worden war. Disziplinarmaßnahmen gegen Lehrer, die während der Unterrichtszeit mit ihren Schülern zur Demonstration gegangen waren, wurden diesmal — im Gegensatz zum halbstündigen Schulstreik gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluß 1983 — nicht verhängt. plu

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