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Everybody is a star!

■ Das Karaoke-Fieber erreicht Berlin: Ein fummeliger Abend bei »Joe am Wedding«, Amrumer Straße

Poldi und Andrea stehen auf der Bühne, schauen etwas verlegen ins Publikum, doch dann geht die Post ab: aus den Lautsprechertürmen dröhnt ein Playback-Gemisch aus Geige und Drumcomputer, eine große Videoleinwand zeigt bunte Bilder, Textzeilen werden eingeblendet, im Rhythmus zur Musik erscheint das jeweils zu singende Wort.

Poldi und Andrea singen live, etwas schräg, etwas holprig, aber so ein gräßliches Lied wie Ein bißchen Frieden kann nur mit einem gewissen Unwohlsein vorgetragen werden (»Ich bin nur ein Mädchen, das sagt, was es fühlt...«). Doch die beiden Jungstars werden nicht allein gelassen; Ralf schrammelt etwas lustlos auf seiner Gitarre und versucht, der tumben Melodie Schärfe zu geben. Rob bläst in ein Saxophon, er ist der musikalische Abfangjäger, falls sich ein Interpret zu weit von der Vorlage entfernt. Das Ganze nennt sich karaoke, kommt aus Japan und heißt so viel wie »leeres Orchester«. Dem singwütigen Publikum stehen über 600 Titel zur Auswahl, von der Ballade bis zum Rock'n'Roll. Poldi und Andrea haben ausgeträllert, auf der Leinwand erscheinen übergroße grüne Buchstaben: JUBEL!

Das Publikum kreischt vergnügt, aber Moderator Joachim ist noch nicht zufrieden: »Und lauter!« fordert er Beifall für seine Retortenstars. Nun wagt Poldi ein Solo. I'm so excited heißt der Diskoknaller (»I know, I know, I know, I want you!«), und schon kocht es auf der Tanzfläche. Nanine und Corina, zwei Profitänzerinnen, wirbeln um Poldi herum, animieren ihn zum Mitmachen, doch Poldi kann nicht tanzen. BITTE KLATSCHEN steht auf der Leinwand, und schon jubelt die Masse.

Andrea kommt zurück. Diesmal hat sie ihre Mutter mitgeschleppt, quietschvergnügt röcheln sie den Megadowner Verdammt ich lieb dich, gnadenlos plärrt und scheppert es aus den Boxen, und da hilft es auch wenig, daß der Tontechniker geistesgegenwärtig das Playback aufdreht.

Nach einer Pause eröffnen Stephan und Martin die neue Runde. Blau, blau, blau blüht der Enzian lallen sie gemeinsam, nur mühsam halten sie sich auf den Beinen, das »Holla, holla, holla dio« wird nur noch so herausgeprustet. Dann kommen die »Postmänner«, zwei Jungs mit lustigen Hüten, die sich erst gar nicht die Mühe machen, den Text an der Leinwand zu lesen. Macht nichts. »Please Mr. Postman« singt das Publikum, die Postmänner schunkeln dazu. Aber es gibt auch sehr gute SängerInnen. Cornelias Stimmgewalt läßt selbst den trotteligen Text »Ich bin wie du, wir sind wie Sand und Meer, und darum brauche ich dich so sehr« nicht peinlich wirken.

Dann kommt Alex: Eine Hand lässig in die Bundfaltenhose gesteckt, versucht er sich an dem fabelhaften Dean-Martin-Song Everybody loves some body some times, und als Nanine auf Alex zutänzelt und sich in verführerischer Pose an ihn schmiegt, kommt Leben in den Mann, er tanzt, singt, lacht, als sei er auf der Bühne geboren. Auch Jeffrey schlägt sich beachtlich, Neil Diamonds He Ain't Heavy verlangt schon großes musikalisches Talent.

Joachim von Fachrenther moderiert seit einem Jahr Karaoke-Shows. »Das ist so eine Art Musiktherapie«, sagt er, »die Leute sollen sich hier ohne Leistungsdruck freisingen, sollen ihren Spaß haben.« Vorauswahlen lehnt Joachim ab: »Bei mir kann jeder mitmachen, sich auch hier spontan dazu entscheiden.« Dazu ist nun Gelegenheit, denn es wird der »Mutige des Abends« gesucht, ein Gast, der zum Gaudi des Publikums ein Lied singt, das Joachim aussucht. Ein Mann schwankt zur Bühne, Joachim stellt ihn nicht vor, nennen wir ihn Erich. Erich kann nicht singen, kann nicht tanzen, seine glasigen Augen starren auf das Mikrophon, und schon setzt das Playback zu Listen to the music ein. Zwei Frauen aus dem Publikum gesellen sich zu Erich, helfen ihm, zwei Tanzschritte nach rechts auszuführen, dann zwei nach links. Das Volk tobt.

Neben der Bühne hat eine wilde Knutscherei eingesetzt, auf der Toilette wird gefummelt. Wie bei richtigen Stars muß Dampf abgelassen werden, die aufgestaute Energie sucht seine Wege. Erich sitzt nach seinem Auftritt allein an einem Tisch, starrt in sein halbvolles Bierglas und führt Selbstgespräche. Karaoke erobert Berlin — endlich! Werner

Karaoke-Partys jeden Dienstag, 21 Uhr, Joe am Wedding. Eintrittspreis: 10 DM.

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