: Erinnern heißt: »Fragen, was wirklich geschah«
■ Das Haus am Großen Wannsee, in dem vor fünfzig Jahren die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen wurde, wurde endlich zur Gedenkstätte
Berlin. Wieder einmal glich der Ort am großen Wannsee 56/58 einem Hochsicherheitstrakt. Ganze Heerscharen von Sicherheitskräften wachten darüber, daß kein Unbefugter sich dem Gelände näher als 100 Meter näherte. Viel Prominenz aus Politik und Gesellschaft war gestern vormittag erschienen, um endlich, knapp 47 Jahre nach Kriegsende, das Haus der Wannsee-Konferenz zu dem zu machen, was Joseph Wulf schon 1966 gefordert hatte. Ein Haus der Aufklärung, ein Ort, an dem um der Zukunft willen die Erinnerung wachgehalten werden muß.
In der Eröffnungsrede erinnerte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, an diesen Mann, den die Verzweiflung 1974 in den Freitod getrieben hatte. Die Gedenkstätte solle eine Basis dafür schaffen, daß Lehren aus der Geschichte gezogen und neuem Rassenwahn vorgebeugt werden könne.
Und er zog Parallelen. »Wenn ich an den schmerzhaften Prozeß der moralischen Reinigung in den neuen Bundesländern denke, so drängt sich mir die Frage auf, warum in den ersten Jahren nach der Befreiung vom Nationalsozialismus nicht eine ähnlich schroffe Abrechnung mit den damaligen Tätern vorgenommen wurde«, sagte er. Eine Antwort darauf blieben ihm die Bonner Repräsentanten schuldig. Bundeskanzler und Bundespräsident ließen vom Rhein aus grüßen und gedenken. Mahnworte sprach in Berlin die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Erinnern heiße, sich Rechenschaft darüber abzulegen, was wirklich geschah, und danach zu fragen, ob es sich so — oder anders wiederholen könne. »Niemand kann seiner Geschichte entfliehen.« Wie notwendig das Erinnern sei, betonte der Regierende Bürgermeister Diepgen, »zeigten die Gewalttaten nicht zuletzt junger Menschen gegen Fremde«. »Mit äußerster Sensibilität« müsse auf jedes Anzeichen von »Fremdenhaß, religiöser und anderer Intoleranz« reagiert werden. Dies ist auch die Ansicht der Fraktion Bündnis 90/Grüne. In einer Erklärung klagten sie Konsequenzen aus den historischen Erfahrungen für die Gegenwart ein. Ein anderes Bewußtsein im Alltag sei notwendig, um mutig der Ausgrenzung von Minderheiten und Gewalt gegen Fremde zu begegnen. Sie kritisierten, daß im Trägerverein des Hauses antifaschistische Initiativen, Geschichtswerkstätten und verschiedene jüdische Organisationen nicht vertreten seien. In einer Erklärung wies die vom Senat nicht anerkannte israelitische Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel darauf hin, daß die »Schatten von Wannsee« fortdauerten. »Gefühlskalt und geschichtsblind« werde der Gemeinde jene »Ruhe und Freundlichkeit« verweigert, die nach der Wannsee-Konferenz und Auschwitz »für jede deutsche Verwaltung gegenüber Juden in Deutschland eine Selbstverständlichkeit sein sollte«. aku
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