: Und der Riesenkerl hat nicht geweint!
■ Wo der Tod dreinschlägt, macht sie die Lebenden heil: Gerda Borchers, Bremens erste Grabrednerin
„Ich denk oft am Grab: Das wirkt zu stark! Die stehen und lauschen, und hinterher war's sooo schön.“Foto: Tristan Vankann
Einem sollte sie eine Rede schreiben, der war noch gar nicht tot. „Ein schöner Mann“, sagt Gerda Borchers; sie hat noch vor Augen, „wie er dalag, und die knochigen Füße ragten aus dem Laken; ein bißchen makaber.“ Aber sie und nur sie wollte er als Rednerin an seinem Grab; so besprachen die beiden an des Mannes vorletzter Ruhestätte, was an der letzten noch zu sagen wäre, und kamen aber von diesem auf jenes und mußten wahrhaftig viel lachen dabei, „und am Ende, da sagte der Todkranke zu mir: Schade, daß wir uns nicht zwanzig Jahre früher getroffen haben. Was hätten wir uns amüsiert!“ Der Mann lebt noch, und seine Grabrede ruht in Gerda Borchers' Ordner.
Seit drei Jahren erst versieht Gerda Borchers, Grabrednerin, dieses ihr Nebenamt, und schon sind die Leute ganz hin und weg von ihr. Neulich kam gar ein Schwarm junger Vikare, Pastorenlehrlinge, ihr zu lauschen, und hörte am Grab eines der Wunderwerke des Trostes, welche Frau Borchers in ihrer Oberneulander Dachstube mühevoll fertigt.
Zwanzig Jahre lang hat sie, als gelernte Organistin zuständig für den Osterholzer Friedhof, die Trauerreden ihrer Kollegen anhören dürfen, der vier, fünf „freien Sprecher“ also in Bremen, welche einspringen, wenn
hierhin bitte das
Grabfoto
Konfessionslose unter die Erde müssen: „Das ist immer die eine Leier, und hinterher hängen sie ein bißchen Lebenslauf dran für 280 Mark plus Mehrwertsteuer. Daß da die Leute nicht Protest schreien!“ Zum Beispiel der Hamilton, Zauberer im Nebenberuf, von dessen Lippen, „ungeheuer schwülstig“, beständig der Honigseim der Psalmen träuft; da sagte doch Frau Borchers eines Tages: „Mein Gott, das könnt ich besser!“ Und nahebei stand einer, der sonst nur Geschichten beendigt, ein Begräbnisunternehmer; diese hier brachte er in Gang.
Als erstes geht sie zu den Hinterbliebenen und fragt und fragt nach den letzten Jahren, der Krankheit, den Kindern und der Sterbestunde und schürft dabei viel mehr Lebensrohstoff als sie nachher veredeln kann: „Die Leute sind ja nicht zu bremsen in ihrer Not. Und wenn ich nach einem Foto frage, kommen sie natürlich an mit allen.“ Und wenn sie den Witwer nach der ersten Begegnung fragt, „dann lacht der auch schon und erzählt von den drei Schwestern auf 'ner Bank, und eine hatte 'ne Mundharmonika“.
Manchmal macht ihr das „solches Vergnügen“, manchmal ist es schwer. Immer nur dort erscheinen, wo die Not am größten ist, wo die Leute nicht aus noch ein
wissen. Einer drohte: „Wenn die Borchers mir nicht gefällt, schmeiß ich sie raus!“ Dafür habe sie volles Verständnis“, sagt mit Lachen Frau Borchers und muß doch einmal an ihrem hochgesteckten Blondschopf nesteln, „aber gerade das macht mir ja Spaß.“ Sie ging hin und fand einen vor, der sich umso leichter erweichen ließ: Bald sprach er ohne Ende von seiner Frau, die doch zwanzig Jahre älter gewesen war, und hatte letztmals Gelegenheit, dies alles einer Menschenseele zu erklären.
Oder die Frau, die erst mit der Sprache nicht raus wollte. Sie hat, zeigte sich nach und nach, „einen schlechten Mann gehabt. Kinder verprügelt und, ach, was nicht alles. Den hab ich denn auch“, sagt sie, „schlecht besprochen am Grab. Das hat der Familie gutgetan.“ Aber selbst diesem, dem Portrait des üblen Kerls, hat sie doch auch die milden Farben des Verstehens beigemengt.
„In jeder Rede spiegelt sich das Vorgespräch“, sagt Frau Borchers, „das verstehen die Leute, das wollen sie hören, und was sie mir erzählen, das mache ich ihnen schön.“ Darüber verzehrt sie sich dann quälende Stunden lang, bis die Lebenden in ihrer Rede sich alle wiederfinden und die Toten wieder ein wenig leben. Am Ende noch ein paar Gedichtzeilen dazu, „oder 'n Wort von Schweitzer“,
und fertig ist, ja was?
Da entsteht, glauben Sie mir, eine kleine, goldwerte, sonderbare, ja, Literatur der Katastrophengebiete. Sie begibt sich, und zwar mit notärztlicher Schleunigkeit, an die äußersten Vorposten des Lebens, in die Häuser, wo soeben der Tod dreingefahren ist, und murmelt dort mit den Verzagten, bis es gut ist.
“Ich denk oft am Grab: Das wirkt zu stark, das lenkt die mir ab. Die stehen und lauschen, und hinterher wars sooo schön.“ Einmal hatte sich ein Hinterbliebener schon vorher seiner Verzweiflung ergeben wollen. „Der rief nur immer: Das halt ich nicht durch! Na, ich hab geredet, und der hat gar nicht geweint. Ein Riesenkerl.“
Einmal im Jahr lädt Gerda Borchers in ihren Garten zum Fest des Schwarzen Gewerbes. Selbst befreundete Pastoren runzeln darob die Stirn, und darum geht es extralustig her: „Und was ham wir wieder mächtig gesoffen!“
All ihre Mühe folgt der einfachen Erkenntnis, daß Begräbnisse Veranstaltungen ausschließlich für die noch Lebenden sind. Der ganze Tod aber kann Frau Borchers gestohlen bleiben. Särge meidet sie, und vorm Gang ans Grab, wenn sie geredet hat, drückt sie sich nach Kräften: „Da kann ich ja nix mehr dran ändern.“
In ihrem Dachstübchen zeigt sie mir Packen von Dankschreiben und, auf einem Regalbrett, die Stapel von erbaulichen Büchern, die sie aber allesamt „überhaupt nicht gebrauchen“ kann. Nützlich ist höchstens Sachliteratur: über Aids, über Selbstmord, über Drogen. Was hat sie nicht schon alles, wie sie sagt, „besprechen“ müssen. Einmal gar ein Mordopfer. Und einmal ein Kind; plötzlicher Kindstod. Sie fand den schönen Gedanken, wie schwer der Mutter doch jetzt das Teilen fallen müsse: „Die große Trauer ist wie die große Liebe um Niklas — Sie werden kaum etwas davon hergeben wollen.“
Einen Ordner muß sie mir noch zeigen: Darin sind die zweifelhaften, aber wirksamen Gedichte, deren sie sich bedient: Da ist die Rede vom Ich, welches unendlich friedvoll zergeht und, ein paar Blätter weiter, von dem Stück blauen Himmels, welches ein jeder dem andern doch zeigen müsse, und das alles ist sicherlich wahr. Manfred Dworschak
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