piwik no script img

...eine saftige Orange

■ Dagmar Demming, Christine Krämer und Holger Schwöbel zeigen in der Bergmannstraße 110 neue Arbeiten

Ausflüge bedürfen der gründlichen Vorbereitung, damit sie nicht zu einer Anstrengung überdimensionaler Art werden. Auf die Frage, welche Utensilien für eine Reise mitzunehmen sind, könnte die Mitteilung lapidar lauten: »Was der Mensch so braucht...« Dieser Spruch, der eher vielsagend ironisch ausweicht denn eine präzise Antwort gibt, formuliert den programmatischen Titel einer Ausstellungsfolge, die zur Zeit in der Bergmannstraße 110 zu sehen ist.

Beim Betreten der Räumlichkeiten sticht zuerst ein Schild in der Aufmachung dezenter Restauranthinweise ins Auge. »Sehen Sie selbst«, ist dort zu lesen. Die Aufforderung wird durch den Namen Dagmar Demming plus Jahreszahl 1992 autorisiert und bezeichnet die Installation der Künstlerin. An einer Stellwand ist ein Spiegel befestigt, der von einer Glühlampe beleuchtet wird. In sechs Variationen dieser Einrichtung, von der Neonröhre bis zur Kerze, ensteht das Ensemble eines Spiegelkabinetts mit dem Charme eines Second-hand-Einrichtungsraumes von Möbel Hübner. Hier wird die Ästhetik einer pluralistischen Wohnsituation von der Junggesellenbude bis zum Ankleideraum mit pompös beleuchtetem Theaterspiegel vorgeführt.

Die unterschiedlichen Funktionen des Spiegels ließen sich aber auch in einer Durchschnittswohnung finden: an der Garderobe, im Jugendzimmer oder über dem Waschbecken im Badezimmer. Besonderer Blickfang ist der Kosmetikspiegel mit seiner erbarmungslosen Vergrößerung: Der Besucher erkennt sich selbst und den verborgenen Mitesser in der Grenzerfahrung eines »LSD-Hangover«.

Die Malerei von Christine Krämer spielt mit dem Effekt der surrealen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ein Hund, der auf einer Matte aus braunem Kork zu liegen scheint, verwandelt sich in abstrakte Formen, umgeben von roten und grünen Farbflächen. Sein Körper ist zerstückelt. In anderen Bidern sind Schlangenkörper zu sehen, aus denen Knochen und Haifischzähne herauswachsen. Abstrakte Formen changieren mit Assoziationen von Tierkörpern, die Leinwand dient als Tableau der Spaceworld.

Die Installation von Holger Schwöbel setzt auf den »Magic-Effekt« der Farben: Auf einer quadratischen Betonplatte ist eine Glühbirne angebracht, die mit einem schlichten, kaufhausfrischen Putzeimer als Lampenschirm verhangen ist. Dieses Prinzip vervielfacht und variiert der Künstler in einer lockeren Versuchsanordnung: Mit Hilfe der Eimer wird das Thema der Farbwirkung der Haushaltsartikel ohne die materielle Verwendung von Farbe beleuchtet. Der Besucher kann verschiedene Eimer übereinanderlegen und in Autosuggestion Farbstudien betreiben. Die Möglichkeiten der Variation durch blaue, gelbe und rote Eimer sind fast unbegrenzt. Durch die Lichtwirkung ist der Raum als riesiger Malkasten psychodelisiert.

Die Spiegelungen und der Eindruck visueller Effekte in diesen Räumen spielen mit der Reizflut der Realität. Im Kopf des Besuchers entsteht die Kunst als Trio im Erlebnisraum. Die Kunstwerke funktionieren dabei als Hilfs- bzw. Brückenkonstruktion zwischen den Phänomenen des Banalen und dem Kick zur »Ich-Erfahrung«.

Die Abbildungen im Katalog zur Ausstellung werden mit den Aufsätzen eines unbekannten Schülers aus Österberg, wo immer das sein mag, konfrontiert. In der Systematik der schulpädagogischen Reglementierung (die Aufgabentexte stammen aus den fünfziger Jahren) sind die Texte von einem Lehrer nach Rechtschreibung, Ausdruck und Schrift beurteilt. Den Aufbau einer Orange beschreibt der Schüler in seinem Aufsatz Ich schäle eine Orange wie einen kosmischen Flash: »Sie ist so prall gefüllt, daß mir beim Durchschneiden der Fasern, die die Frucht wie ein Spinngewebe umschnüren, sofort das herrliche duftende Naß entgegenspritzt.« Die Begeisterung des Schülers über den geschilderten Vorgang übertrifft Dagmar Demmings nüchterne Aufforderung »Sehen Sie selbst« als Losung zur Erweiterung des Bewußtseins bei weitem. Euphorie durch Kunst ist mehr als eine Frage der Dosierung ihrer Mittel.

Doris Titze, Thomas Hellinger und Matthias Stuchtey zeigen nächsten Monat in diesen Räumen ebenfalls Arbeiten zur Bedürfnislage des Menschen im allgemeinen. Man darf gespannt sein, denn die in dieser Ausstellung vermittelte Message heißt bisher eindeutig: All you need is... Herbert Jochmann

Bis zum 1.Februar in der Produzentengalerie in der Bergmannstraße 110, Kreuzberg, donnerstags, freitags und samstags 15-18 Uhr.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen