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Von Aristokraten und Vampiren

■ Das Orphtheater mit Lautréamonts »Maldoror« im Tacheles in der Oranienburger Straße

Ein mächtig abgehalfterter Saal, ein krude arrangiertes Eßzimmer, angesiedelt auf einer aristokratischen Schwundstufe mit vampireskem Einschlag, ein lahmender Diener, der sich mit Kerzenkandelaber und dem korrekten Decken der Speisetafel reichlich schwertut, eine abgetakelte Gesellschaft von Sonderlingen, die durch die Türen bricht, aus Schränken klettert, unter Lumpenhaufen auftaucht, um ein äußerst ungeselliges Beisammensein zu zelebrieren, das in erster Linie aus Kotz- und Röchelanfällen besteht und ohne einsehbaren Anlaß wieder auseinanderbricht: So läßt das Orphtheater das Spektakel beginnen, das den berühmt-berüchtigten Chants de Maldoror eine bizarre Bilderfolge abgewinnt, die zu dem konsequentesten gehört, was auf Berliner Bühnen an grotesken Phantasien in letzter Zeit zu sehen war.

Ob man Maldoror nun mit »die aufgehende Sonne des Bösen« (»l'aurore du mal«) oder als »böse Morgenröte« (»Mal d'aurore«) übersetzt, in jedem Fall handelt es sich bei dem Werk um ein literarisches Zeugnis der Einsamkeit, das so ungefüg und ungeschlacht daherkommt, daß es die Surrealisten allemal als Urtext anerkannten.

Isodore Lucien Ducasse, der sich Comte de Lautréamont nannte, mag tatsächlich ein »Kind des Paradieses« gewesen sein, wie ihn Wolfgang Koeppen einmal bezeichnete: Mit 17 Jahren kam er aus Montevideo nach Paris, um in dieser Hauptschlagader europäischer Kultur ein Polytechnikum zu besuchen. Doch läßt der übermittelte Lebensweg darauf schließen, daß der melancholische Jüngling mehr von sich selber als von der Großstadt in Bann geschlagen wurde: Fünf Jahre schrieb er an seiner von Egomanie strotzenden Schrift, deren Veröffentlichung sich kein Verlag zu Lebzeiten des Autors traute.

Für das Theater hat ihn nun die Ostberliner Gruppe »ORPHTHEATER« entdeckt. Doch keine Angst: der Regisseur Thomas Roth und seine Truppe haben kein Interesse an elitärem Literaturtheater: Deutlich gesprochenes Wort kommt, wenn überhaupt, nur als Untermalung vor, wird meist nur undeutlich gebrabbelt oder angelegentlich im Chor skandiert.

Die Atmosphäre im Theatersaal des Tacheles hat wieder einmal eine OFF-Theatergruppe zu einem maroden Gesellschaftsbild veranlaßt: kongenial gelingt es, eine surrealistische Bilderwelt zu entfachen, die den ganzen Raum inklusive der Zuschauerbühne zum Ereignis werden läßt. Schrittweise folgt die ganze Zuschauertribüne der Szenenfolge, die mit den drei Bildern sich immer weiter in den Hinterraum hineinschiebt und die ganze Tribüne nachrücken läßt. Die Szenen zerfallen immer wieder in Einzelbilder, in denen jeweils eine der fünf Gestalten dominiert; der Handlungslogik wird dabei die Tür schnell ganz zugeschlagen. Allmählich werden allerdings auch Strukturen deutlich, die dem normalen Zeitkontinuum ein Schnippchen schlagen: da wird ein Paar gezeigt, daß heftig miteinander tanzt, einen heftigen Zungenkuß tauscht und sich dann verstreitet, weil er ihr nachhaltig an die Brüste faßt. Wie eine fehlerhafte Prozedur wiederholt sich das Spiel von vorn, doch zeitversetzt für jeden Partner — der ins Ritual gestellte Vorgang hält die Figuren nicht mehr zusammen, Einsamkeit und krasse Entfremdung machen sich breit.

Ähnliches passiert im zweiten Bild, das im Freien vor einer eingerissenen, niedrigen Mauer spielt: ein Formationstanz wiederholt sich immer wieder, während ein Mörder umgeht und nacheinander alle Tänzer tötet. Das letzte Bild gibt einen kleinen, aber traurigen Ausblick, eine vage Hoffnung, eine kurze Utopie.

Der Sand, der den Boden bedeckt, oszilliert zwischen der frustrierenden Unstabilität einer »Sandburg und der kreativen Naivität eines Buddelkastens«. Die Figuren sind jetzt in ihren Bewegungen ganz ruhig geworden und agieren unisono von einer unsichtbaren Gemeinsamkeit bewegt; nach dem grausamen Panoptikum der Einsamkeit eher eine schon zu großartige Utopie, an deren Ende wohl zwangsläufig das gemeinsame Schlagen an die Klagemauer steht.

In jedem Fall haben R.A.MM und ZATA und Experimentiergruppen ähnlichen Kalibers mit dieser gleichermaßen konzentrierten wie disziplinierten Gruppe eine echte und ernst zunehmende Konkurrenz bekommen. **gurke**

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