: Auf dem Eis hört die Freiheit auf
Die Paarlauf-Welt- und Europameister Natalia Mischkutenok und Artur Dmitriew sind die großen Favoriten bei den gestern begonnenen Europameisterschaften in Lausanne ■ Von Thomas Schreyer
Petersburg (taz) — Wo sich die Eislaufhalle „Dworets sporta jubilejni“ befindet, kann fast jeder Befragte in Petersburg sagen. Doch wer dort trainiert und daß es sich um die Paarlauf-Schule der (ehemaligen) Sowjetunion schlechthin handelt, wissen nur wenige. Die Namen der Weltmeister Mischkutenok und Dmitriew sagen den meisten Petersburgern nichts. Noch weniger, daß hier auch die WM-Dritten Bechke/ Petrow ihre Zirkel auf das Eis kratzen. Die beiden Paare treffen sich im „Dborets“, einer Anlage mit großer und kleiner Eislauffläche, Gymnastikräumen und einem Veranstaltungssaal in einer kleinen, dunklen Umkleidekabine, wo zwei Vorhänge die beiden Männer von den beiden Frauen trennen. Auf einem kleinen Tisch wird Kaffee mit dem Tauchsieder in einem Plastikbecher erhitzt, und die Tafel schweizer Schokolade liegt für alle da. Elena Bechke spielt noch mit ihrem Cocker-Spaniel, und Natalja Mischkutenok bindet gerade die Schuhe, ehe Trainerin Tamara Moskwina hereinkommt. Moskwina hatte bereits die Olympiasieger Walowa/Wassiljew unter ihren Fittichen. „Wir üben in der Regel zweimal am Tag“, erzählt Natalja Mischkutenok, „etwa fünf bis sechs Stunden.“ Zuerst steht das „Trockentraining“ auf dem Programm: Im Ballettsaal wird aufgewärmt, gedehnt, werden bestimmte Bewegungen einstudiert, Haltungen, auch Sprünge und Würfe. Erst dann geht es aufs Eis. Seit 1986 läuft Natalja Mischkutenok mit Arthur Dmitriew. Er ist bisher ihr einziger Partner. Vorher widmete sich die Weißrussin in ihrer Heimatstadt Minsk dem Damenwettbewerb und wurde sogar Landesmeisterin in Weißrußland. „Ich wollte unbedingt mit einem Partner aufs Eis“, war sie sich sicher. Mit 16 Jahren wechselte sie von Minsk nach Leningrad, um sich ihren Wunsch zu erfüllen. Sie denkt heute als Einundzwanzigjährige noch nicht ans Aufhören, obwohl es zeitweise gewisse Flauten gibt. „Ich habe schon manchmal die Nase ein bißchen voll“, gibt sie zu, „aber jedes Jahr zur gleichen Zeit, im September, fällt es mir recht schwer, auf die Fläche zu gehen. Da beginnt unsere neue Saison, und ich würde die Kufen am liebsten an den Nagel hängen.“ Warum sie das nicht tut? „Ich habe so einen guten Partner“, lobt sie Artur Dmitriew. Er lehre sie nicht nur, „er richtet mich einfach wieder auf — da kann ich mich nicht hängen lassen.“
Ein harmonisches Paar, das nur wenige Rückschläge kennt: „Nach unserer Amerika-Tour im Anschluß an die WM hat sich Artur am Knie verletzt. Ich glaube, das war mein bisher unangenehmstes Erlebnis. Wir konnten einen Monat lang nichts machen.“ Der damalige Trainingsrückstand ist wieder wettgemacht. Beim vorolympischen Wettbewerb in Albertville belegten Mischkutenok/Dmitriew souverän den ersten Platz. Die Zielsetzung für 1992 ist klar: Europa- und Weltmeistertitel in Lausanne und Oakland verteidigen und der Olympiasieg in Albertville.
Nach ihrer Amateur-Laufbahn will Mischkutenok ins Profilager überwechseln. Seit der Perestroika habe sich einiges geändert. „Für uns ist vieles einfacher“, glaubt die 21jährige. Rund 60Prozent der gewonnenen Preisgelder könnten die Aktiven nach dem Wettkampf selbst einstecken. Das ist viel wert, bedenkt man, daß der monatliche Durchschnittslohn in Rußland bei ungefähr 500Rubeln liegt (zur Zeit etwa 7,10DM) und gegen Devisen alles zu bekommen ist. Gleichwohl leben die SpitzensportlerInnen in einer anderen Welt. Für die Mutter und die zwei Jahre ältere Schwester kaufte Natalja Mischkutenok ein Haus, und Autofahren können die Petersburger Paarläufer mit westlichen Modellen. Schlangestehen gehört ebensowenig zur Erlebniswelt eines Meisterpaares wie die Sorge, Essen für den nächsten Tag zu beschaffen.
An welch dünnem Faden diese Welt dennoch hängt, wird Mischkutenok mit einem Schlag bewußt. In der Umkleidekabine zeigt Trainerin Tamara Moskwina, wer die „Herrin“ im Lande ist.
Ein Unding, daß sich Bechke/Petrow ohne „Erlaubnis“ in der Stadt hätten fotografieren lassen; ein Fehler, daß Mischkutenok ohne „Erlaubnis“ Rede und Antwort gestanden habe. „Mischkutenok/Dmitriew haben keine Öffentlichkeit nötig“, faucht Moskwina wörtlich, auch wenn Natalja Mischkutenok auf die Frage, ob sie denn Fanpost bekomme, verlegen mit „wenig“ antwortet. „Als Weltmeisterpaar kennt sie jeder“, ist Moskwina überzeugt. Eine besondere „Strafaktion“ denkt sich Moskwina für die WM-Dritten Bechke/Petrow aus, die sie fast einen ganzen Tag lang links liegen läßt, nicht beachtet und ihre Olympia- Vorbereitung ignoriert. Vorher hätte der Staat das Sagen gehabt, „jetzt ich“, sagt Moskwina.
Möglich, daß Moskwinas Ärger von der allgemeinen Unsicherheit in Rußland mitgetragen wird, vielleicht auch von der Angst, in einer sich auflösenden Sowjetunion selbst mit aufgelöst zu werden. Doch noch geht das Eis-Leben weiter. Der „Liebestraum“ von Liszt, die Kür für 1992, wird heute nicht aufgelegt. Aus den Lautsprechern dröhnt Musik von den Scorpions (Winds of Change), zu deren Rhythmen sich Mischkutenok/ Dmitriew hineindrehen und förmlich eintauchen: „Listening to the winds of change“.
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