: Das Glatteis war zu glatt
■ Bei der Eiskunstlauf-Europameisterschaft in Lausanne stürzten sich die Paarläufer aus den GUS auf die Podeste: Natalia Mischkutienok und Artur Dmitriev fielen am anmutigsten und holten erneut den Titel
Berlin (taz) — Wollen wir mal nicht fragen, ob es eine tolle Idee der Deutschen Eislauf-Union war, die Fahrkarten nach Albertville ausschließlich gemäß der EM-Plazierung zu vergeben. Einen Effekt zumindest hatte diese Methode: Lähmung. Die olympiagierigen deutschen Duos erstarrten am Mittwoch abend beim finalen Kürvortrag vor lauter Qualifikationsangst. „Wir haben uns noch nie so oft auf den Arsch gepackt wie hier“, knurrte der Vize-Europameister von 1989, Axel Rauschenbach. Zweimal setzte er seine Partnerin Mandy Wötzel richtig aufs Parkett, überdrehte Sprünge und zitterte den Rest reichlich verunsichert nach Hause. „Hätten wir nur ein Element mehr verpatzt, wäre das Olympia- Ticket weg gewesen“, knirschte Rauschenbach. Doch mit Platz sechs ergatterte das Paar die olympische Zweitzulassung.
Erste deutsche Wahl sind die Berliner Peggy Schwarz und Alexander König, die wenig glanzvoll, aber wenigstens ohne nennenswerten Eiskontakt EM-Platz fünf erheischten. Für Anuschka Gläser und Stefan Pfrengle hingegen ist Olympia abgestürzt. Annähernd jeder Sprung ging schief, und gegen Ende wirkte es geradezu grob, wie Pfrengle seine Partnerin immer wieder ausdrucksvoll aufs Glatteis warf. Pfrengle, der bereits schon 1988 knapp sein Olympia-Ziel verfehlt hatte, wütete: „Wenn soviel danebengeht, muß man sich sehr zusammennehmen, um nicht die Schlittschuhe während der Kür auszuziehen.“
Ob dies weniger rutschig geworden wäre, bleibt zu bezweifeln — das Eis in Lausanne scheint ohnehin glatter zu sein als anderswo. Nur wenige, die sich nicht langlegten, kaum ein Paar, dem es nicht mindestens einmal das einstudierte Lächeln bei einem Ausrutscher mächtig verzog. Selbst der üblicherweise hinreißend vorgetragene Lisztsche Liebestraum der Welt- und Europameister Natalia Mischkutienok und Artur Dmitriev (GUS) wurde empfindlich gestört: Eine gewaltsame Trennung brachte die Frischverliebten kurzzeitig auf den eisigen Boden der Realität zurück. Doch die Restliebe reichte aus, um den Titel aus dem Vorjahr zu verteidigen. Dem italienischen Punkterichter ging das Glück der beiden besonders zu Herzen — ergriffen griff er zur Höchstnote 6,0.
Insgesamt schienen die Paare aus den GUS sich auf Glatteis besser zurechtzufinden. Platz zwei ging an Elena Bechke und Denis Petrow aus St. Petersburg, die wie die Erstplazierten von der gestrengen früheren sowjetischen Meistertrainerin Tamara Moskwina gecoacht werden. Drittes Paar auf dem Podest wurden Ewgenia Schischkowa und Wladim Naumow, ebenfalls für die GUS startend.
Doch trotz des Dreifachtriumphes wollte die rechte Hochstimmung bei den drei Paaren aus dem ehemaligen Leningrad nicht aufkommen. Als sie glücksstrahlend auf dem Podest standen, wurden sie überrascht von einer seltenen Instinktlosigkeit der Internationalen Eislauf-Union. Statt der von ihnen erwarteten sowjetischen Fahne und Hymne hatten die selbstgefälligen Funktionäre — ohne die Sportler vorher nach deren Meinung zu fragen — drei eigene Verbandsfahnen aufziehen sowie eine unbekannte Musik abspielen lassen. „Wir wußten nichts davon. Es war fürchterlich“, meinte traurig Elena Bechke über den Augenblick auf dem Siegerpodest. Geschmacklosigkeiten dieser Art scheinen bei den Eiskunstlauf-Funktionären äußerst beliebt zu sein. Zuletzt tat sich der Deutsche Verband bei der Weltmeisterschaft 1990 in München hervor, als bei der Eröffnung die Deutsche Eiskunstlaufgeschichte dargestellt wurde — ohne jegliche Berücksichtigung des weitaus erfolgreicheren DDR-Eiskunstlaufs.
Für Tamara Moskwina, Trainerin der beiden erstplazierten Paare und einst — wie Jutta Müller in der DDR — die Inkarnation des sowjetischen Eiskunstlaufens, war die einsame Entscheidung des internationalen Verbandes ein regelrechter Schock: „Als ich das sah und hörte, wußte ich, daß es unser Land nicht mehr gibt.“ miß
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen