Fleischwurstgesichter im Studio

■ Zu Gast bei Wim Thoelke und »Der große Preis« im ZDF-Studio Oberlandstraße

Am U-Bahnhof Alt-Tempelhof in den 170er Bus, und dann immer geradeaus, am Gelände eines Rasierklingenherstellers und Autobahnbrücken vorbei bis zur Bahlsen-Leuchtschrift: auf der anderen Straßenseite liegt der Eingang zum ZDF-Studio Oberlandstraße. Hier, in der Mitte von Nirgendwo, wird seit 1973 Wim Thoelkes mäßig heiteres Spiel für gescheite Leute live produziert.

Um 19.00 Uhr, eine Stunde vor Sendebeginn, stromern einige Menschen in Winterkleidung mit suchendem Blick über das schlecht beleuchtete Areal. Auf der Eintrittskarte für einen der 150 Publikumsplätze beim Großen Preis fehlt eine Wegbeschreibung, und auch der Pförtner blickt den Gästen leidenschaftslos nach. Ein älterer Herr, der offenbar schon öfter beim Quiz war, nimmt sich der Versprengten an. Im Windfang der Barackenkantine »Casino«, einer verrauchten Mischung aus Fernfahrerkneipe und Wartesaal, wartet die unbezahlte Claque die Nachricht von der Öffnung des Fernsehstudios ab. Ein Sonnyboy mit lackiertem Langhaar und hochgeschlossenem weißen Hemd (mit Silberknöpfchen) wird auf dem Weg zur Telefonkabine taxiert und für zu leicht befunden. Die junge Frau neben dem Zigarettenautomat läßt das dicke Autogrammbuch in ihrer Hand wieder sinken.

30 Minuten und einen Windfang später finden sich wir Fleischwurstgesichter, die wir uns vom U-Bahn- Fahren her kennen, beim Kartenabreißer im zweiten Stock wieder. In arenamäßig angeordneten Reihen sitzt man im Jupiterlampenlicht über der grauen, eng anmutenden Studiokulisse — mittig zusammengeschoben, um zwei Dutzend leere Sitze für die Menschen an den Empfängern unsichtbar zu machen. Auch von Wim, seit ehedem Einschaltquoten- Garant des Zweiten Deutschen Fernsehens, des »Herrschers der Altenheime« (RTL-Geschäftsführer Thoma), ist nichts zu sehen.20.00 Uhr, Titelmelodie, der Meister tritt auf, Applaus: gebräunt und im grün- schwarz karierten Anzug nicht mehr so krebsmager wie noch vor einem Jahr repetiert er die gleiche Anmoderation wie vor 18 Jahren, freundlich wie der Mann von der Hamburg Mannheimer. Ein Pfarrer aus Bayern, ein arbeitsloser Umschulungsberechtigter und der Champion der letzten Sendung, im Zivilstand lispelnder Diplom-Pädagoge finden rasch auf die Kandidatenplätze. Bei den Fragen zum Spezialgebiet, bei denen der erwerbslose Hallodri (Thema: Cassius Clay) sich nölend unbeliebt macht, hakelt es, als der Lispelkönig über sein Spezialgebiet, die Provence, besser Bescheid weiß als der Moderator: »Eine Ersatzfrage«, und heiter weiter.Die erste Divergenz zwischen Sendeplan und Publikum gibt es, als Schlagersternchen Andrea Jürgens mit Vollplayback zuschlägt. Drei Animateure, die während der dritten Strophe den Marschtakt zum Nachklatschen vorgeben, hören schnell wieder auf. Durch die auf 75 Minuten gekürzte Sendezeit um einige nett geplauderte Worte mit der jungen Frau betrogen, schmollen die Zuschauer mit höflichem Beifall. Auch Grinskopf Walter Plathe, der als Lottofee Zahlungsabschnitte aus notariell überwachter Lostrommel zieht, kann das Publikum nicht aufheitern. Weder sein unsäglich berlinertes Couplet noch Grüße an die Beleuchter (»Hallo Jungs«) lenken davon ab, daß Sonnenscheinchen nur Werbung für die ZDF-Vorabendserie Der Landarzt läuft, in der er die Hauptrolle spielt.

Huschhusch fegt Thoelke durch Fragen aus der Welt von Hexen, Geistern und Magie, die durch Buchstaben an der Videowand symboliert werden. Volkstümliches wie »Wie hieß das Märchen, in dem vier Tiere Räuber aus ihrem Haus getrieben, und wo war das?« und Bildungsbürgerliches wie »Welches ist der Name der Schlangengöttin, bie dessen Blick man versteinert?« hielten sich dabei proporzgerecht die Waage und trieben den aufgeregten Kandidaten — nur Kerls — den Schweiß in die weißen Anzughemden.

Eine musikalische Einlage noch, diesmal sogar live — wie die Herren mit dem Ufa-Schlager wohl zu ihrem Auftritt gekommen sind? —, packt die Regie in die knappe Sendezeit. Für Walther Spahrbier seligs Rentnerauftritte und Fritze Flinks Sketche ist allerdings kein Platz mehr. Auch das endlose Herunterbeten von Losnummern gibt es nicht mehr: allein eine Assistentin liest im quittegelben Kleid eine Auswahl der Gewinner der Lotterie zugunsten von Aktion Sorgenkind mit Big Wim. Ein Medley aus Melodien der sechziger Jahre vom Band klimpert die Schlußrunde ein. Da ist auch der gelackte Herr aus dem Windfang wieder und tut brav so, als spielte er Gitarre.

Alle drei Kandidaten beantworten ihre Fragen (»dreiteilig, in 60 Sekunden«) korrekt, und so fällt dem Abzocker der zweiten Runde der Blumenstrauß zu, den Fräulein Tausendschön für den Gewinner nach Zahlen bereithält: dem Hallodri. Rund 4.000,— nehmen sie alle mit nach Hause. Artig sagt Wim dem Umschüler in spe (»Grafikdesign oder Masseur«) seine Glückwünsche und macht die Abmod, während die alten Hasen im Publikum schon aufspringen, um zuerst an der Garderobe zu sein. Im 170er Bus, der um diese Uhrzeit nur 20minütig verkehrt, sehen die meisten sich ohnehin wieder. Stefan Gerhard