: Hauptstadt Berlin und die Farbe Lila
■ Ein Australier entdeckt die Buntheiten in unserer Stadt und die Vorliebe für die kleidsame Farbe Schwarz
Ich habe oft gedacht, daß die Vereinten Nationen eine Art Modepolizei zusammenstellen sollte, die zur Überwachung modischer Krisenherde weltweit eingesetzt werden könnte. Berlin wäre dann die erste Stadt auf der Liste.
Ich weiß, wovon ich rede, weil ich Australier bin und wir uns vieler modischer, zu Klassikern gewordener Erfindungen rühmen dürfen, beispielsweise einem monströsen Schuhwerk, das wir Thong nennen (eine Gummisandale, die beim Gehen knallt), oder Stuby (winzige Stretch- Shorts mit obligatorischem Känguruh-Aufdruck), schillernde Sonnencreme, und nicht zu vergessen, dem Akubra, zu deutsch ein großer Hut mit einer Menge herunterhängender Korken.
Aber ich fürchte, daß selbst modebewußte Australier aus ihren Gummisandalen rutschen beim Anblick der Berliner, die versuchen, gut auszusehen.
Sehen wir der Wahrheit ins Gesicht: Berlin verstößt gegen alle Moderegeln. Ich kann mir das nur so erklären, daß die Berliner keine Ankleidespiegel besitzen, da sie gezwungen sind, in Altbauwohnungen zu leben, die ja lange vor der Erfindung solcher Dinge gebaut wurden. Beim Anblick vieler Kleiderzusammenstellungen der Berliner wird es peinlich klar, daß ein Auf- und Abspringen vor dem Waschbeckenspiegel eben doch nicht ganz genügt.
Andere machen das Fernsehen dafür verantwortlich. Eine Freundin meinte, daß all die amerikanischen Serien der siebziger Jahre die Berliner in eine Unterwelt aus Patchwork- Lederjacken, Schnurrbärten, überlangen Koteletten, großen Hemdkragen und grellbunten Hemden eingefangen haben. »Die haben einfach zu viel Dr. Marcus Wilby MD und Kojak gesehen, zwanzig Jahre, nachdem die übrige Welt davon genug hatte«, sagt sie. Egal weshalb, fest steht jedenfalls, daß Berlin sich das größte Kleidermuseum der Welt unter freiem Himmel nennen kann.
Während die übrige Welt Mode als einen oberflächlichen und vergänglichen Zeitvertreib ansieht, so gehen die Berliner naturgetreu auch hier aufs Ganze. Etwas muß nur einmal in Mode gewesen sein, und mit Sicherheit findet man jemanden irgendwo in Berlin, für den es immer in bleiben wird, und so ist ein Spaziergang durch die Berliner Straßen immer wie eine Reise in die Vergangenheit. Rote und grüne Irokesenfrisuren, Cowboystiefel (natürlich über die Hosen gezogen), Hippies, bunte Webpelzmäntel, bestickte Jeans, Geschäftsleute mit roten Hosenträgern, amerikanische Collegejacken, Fransenjacken, riesige Sonnebrillen und Reiterhosen sind nur ein paar der Glanzlichter, die täglich vor mir aufleuchten. Gott ist mein Zeuge, kürzlich tat sich wirklich vor mir ein Kaftan auf, der sich mit einer weißen Vinyljacke im »Naß-Glanz-Look« zusammengetan hatte.
Diese immerwährende Modenostalgie erklärt vielleicht auch, weshalb Männer so sehr an ihren weißen Socken hängen, obwohl schon vor langem nachgewiesen wurde, daß diese gesundheitsschädlich sind, und ich frage mich bald, ob die traditionelle Paarung weißer Socken mit Sandalen einem tieferen, mythologischen Symbol zugrundeliegt. Aber noch irritierender als weiße Socken ist die Frage, die allen Ausländern auf den Lippen liegt: »Also, Leute, wieso ist alles lila?«
In Australien, wie in den meisten gehobeneren Kulturzentren der Mode, wurde die heimtückische Wirkung der Farbe Lila schnell erkannt, die in schweren Fällen zum Wahnsinn führt, sowie zu asymmetrischen Frisuren bis hin zum Tragen von hautengen, taillierten Hemden! Deshalb wurde Lila um die Jahrhundertwende gejagt und als Farbe abgesetzt.
Wie ich sehe, hat Lila jetzt seinen Weg nach Berlin gefunden, wo es blüht und gedeiht. Lila, soweit das Auge reicht — lila Hosen, lila Hemden, lila Taschen, lila Sofas, lila Autos und um Himmels willen, sogar lila Gebäude.
Es kann nur noch schlimmer werden, wenn die Allerkleinsten schon von Kopf bis Fuß in Lila gekleidet werden — die allgegenwärtigen schillernden lila Kinderrucksäcke sind schon ein böses Vorzeichen. Ich mache mir Sorgen. Der Berliner Umgang mit Modefarben ist ohnehin recht seltsam — einerseits finden wir den von mir benannten »Obst- und Gemüse-Look«, der auf Farben besteht, die man besser auf dem Winterfeldt- Markt gelassen hätte: Wassermelone, Traube, Aubergine, Kirsche, und, ja sogar Avocado. Oder wir stoßen auf den »Kohle-Look« in seinen faszinierenden Schattierungen von schwarzem, schwarzem und schwarzem Leder (zugegeben, ab und zu auch etwas braun), das einen besonderen Platz im Herzen der Berliner einnimmt, weil es an ihrer Liebe zu allem, was alternativ und anti ist, anknüpft.
Zu diesem Look gehören auch Pullover, die in der Kochwäsche den schnellen Tod fanden, Kleidungsstücke, die denken müssen, »Bügeln« wäre eine Stadt in Ostdeutschland, und solche, die so aussehen, als hätte man sie im Dunkeln wahllos vom Boden aufgelesen. Kein Wunder, daß man sich in eine weltweite Flohmarkttagung versetzt fühlt, wenn man in Berlin ausgeht.
Die persönliche Eigenart der Berliner, sich zu kleiden, macht auch bei den Haaren nicht Halt. Die meisten Männer sehen aus, als hätten sie ihre Köpfe in elektrische Bleistiftspitzer gesteckt, wohingegen die Frauen ihre Haarpracht mit einer für die sie umgebende Umwelt tödlichen Dosis Oxydationsmittel, Dauerwellenlösung und Haarspray bearbeiten.
Das kann schlimme Folgen haben, wie ich kürzlich bemerkte, und ich schwöre bei Gott, ich sage die Wahrheit... ich stehe in der Schlange und warte, und was sehe ich im Haar der Frau vor mir? Aus ihren starren, blonden Locken hatten sich die Worte Hilf mir geformt. Die Berliner sind auch ganz groß im »Selbst-Schnitt«, wie ich es nenne. Ich fürchte, der Modepolizei würde das gar sehr mißfallen, nicht nur wegen des rücksichtslosen Umgangs mit Haarfärbemitteln, nein, vor allem, weil die meisten Berliner mit dem Schneiden aufhören, wenn sie zu den Ohren kommen — der Hinterkopf wird dem Schicksal überlassen.
Trotz aller Unzulänglichkeiten im Umgang mit Mode ist es den Berlinern wenigstens gelungen, locker zu bleiben und weder den Marotten von London, noch der so kostbaren Eleganz von Paris oder der Einheitlichkeit von Rom zu verfallen. Eine letzte Warnung jedoch an all die Leute, die mit Vorliebe schillernde lila Jogging- Anzüge mit aufgedruckten Phrasen tragen: die Modepolizei ist unterwegs. [Und jetzt noch ein Foto — Rück- und Vorderansicht — des Autors, bitte! Aber ich habe ja den bösen Verdahct, daß er grau in Grau herumläuft! d. säzzer]Stephen Freeth
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