: Musik à la Schnittke
■ Neue Instrumentalmusik der Ära, die nach dem Abgang Pierre Boulez folgt — Inventionen 92 — die IRCAM-Ära, Bericht aus einer Akademie
Wie im politischen Leben Frankreichs alles auf Paris zentriert ist, wirkt Pierre Boulez als Übervater der neuen Musik. Seit einiger Zeit wetterte manch einer gegen Boulez' »engherzig-dogmatische und lähmende ästhetische Ansichten«, aber Ernst mit dem Vatermord machte man erst Herbst letzten Jahres. Boulez trat, für die gesamte Musikwelt recht überraschend, als Leiter des von ihm gegründeten und geförderten Renommierinstitutes für elektronische Musik, dem IRCAM in Paris, zurück. Damit war die Stunde der jüngeren Generation gekommen.
Diese stellte sich nun im Rahmen der Inventionen 92 in einem Konzert in der Akademie der Künste vor, das, gut besucht, von vielen mit Spannung erwartet worden war. Marc- André Dalbavie leitete das nordische AVANTI! Chamber Orchestra und interpretierte, neben einem eigenen Stück, drei Kompositionen seiner IRCAM-Kollegen.
Was alle Stücke einte, war weniger ein musikalischer Stil denn die Beteiligung von Elektronik in unterschiedlichster Form. Was die Komponisten einte, war, wohl pragmatisch die neue IRCAM-Philosophie verkörpernd, ihr Alter unter vierzig und ihre Bilderbuchlebensläufe.
Das Fragment de Lune des französischen Tonkünstlers Philippe Hurel eröffnete den Reigen. Wild gestikuliert er mit musikalischen Phrasen, zitiert eigene frühere Stücke, die vermutlich kaum einer kennt. Ein wenig Elektronik wird beigefügt, und im zugehörigen Programmtext wird alles eher unverständlich ver- denn erklärt. So plätschert das Stück in ein paar aneinandergefügten Abschnitten dahin. Als »durchlaufene Strecke (ohne Wiederholungen und Wiederkehr)« will Hurel es beschrieben wissen — assoziativ liegt da die Durststrecke nicht weit.
Kaija Saariahos Aer für sieben Instrumente und Live-Elektronik ist ein Teil ihrer Ballettmusik Maa. Sie benutzt im elektroakustischen Teil ihres Stückes vorab aufgenommene und dann transformierte Naturklänge. Dabei sucht sie mit »interessanten Möglichkeiten von einem Klangmaterial zum nächsten voranzuschreiten«. Das tut sie auch, schreitet ziemlich orientierungslos in den elektronisch etwas aufgeputzten typischen Neue-Musik-Ensembleklängen umher. Das war's dann schon: von einem Klangmaterial zum nächsten eben. Magnus Lindberg, ihr finnischer Landsmann, war mit Joy vertreten. Aus dem Programmheft erfährt man, neben recht eindrucksvollen musiktheoretischen Verrenkungen, daß die »großformale Konzeption« des Stückes »genuin dramatisch« ist und Magnus Lindberg (deshalb?) erwog, dem Stück den Titel Prometheus zu geben. Was Prometheus aber mit Joy, also Freude, zu tun hat, bleibt offen.
Dafür ergeht sich die Musik in postmoderner Reisefreudigkeit. Allerlei überall Gehörtes wird da bunt aneinandergeklebt: Ein kleiner Walzer ohne Wiener Charme darf anklingen, irgendwo gibt's was Scherzohaftes, und kräftig bläst das stark vertretene Blech sinfonische Erinnerungen. Ein Sampler darf mitmischen, mit vorher aufgenommenen Klängen von mit dem Bogen gestrichenen Flügelsaiten. Auch das brav abgekupfert — hat doch diese Art der Klangerzeugung bereits Mario Bertoncini im Umkreis der nuovo consonanza in den frühen Sechzigern entwickelt, was verstärkt von der New Yorker Downtown-Szene aufgenommen wurde und später seinen Niederschlag in den sound icons von Horatio Radulesco fand.
Blieb zum Abschluß Diadmes für Viola, Ensemble und Elektronik von Marc-André Dalbavie, der zugleich das Ensemble leitete. Der erste Akkord bereits ist echter Schnittke, und so brauchte man auch auf den restlichen Schnittke nicht lange zu warten: die von Mahler und Schostakowitsch übernommenen Glocken aus der Ferne erklingen bald. Sowohl die ursprüngliche Anlage des Stückes als Bratschenkonzert als auch die Verstärkung des Soloinstruments finden sich selbstredend in Schnittkes Bratschenkonzert wieder. Ein eher trauriges Kapitel, dem auch ein kurzer Minimal-music-Einschub nicht mehr half. Für die neue Generation am IRCAM jedenfalls war es eine kompositorisch eher peinliche Veranstaltung. fred freytag
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