DOKUMENTATION
: Wanderungsziel Europa

■ SPD-Ehrenvorsitzender Willy Brandt fordert eine EG-weite Migrationspolitik, die nicht nur in Westeuropa Veränderungen bewirkt

Es ist realistisch, davon auszugehen, daß Westeuropa auf absehbare Zeit unter Zuwanderungsdruck bleiben wird. Die Problemlage im östlichen Teil unseres Kontinents macht dies wahrscheinlich. Ebenso die Lebensumstände in einer Vielzahl von Ländern südlich Europas. Was also tun?

„Migrationsströme werden zur Belastung“

Zunächst zur Versachlichung der Debatte: Wanderungsbewegungen, die in gemäßigtem Umfang ablaufen, sind ja wirtschaftlich und kulturell durchaus positiv zu bewerten; sie bringen Gewinn. Wenn die Zahlen jedoch explodieren, werden Migrationsströme zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Belastung — übrigens auch für Herkunftsländer, wo der Weggang von unternehmerischen Menschen zu lähmender Hoffnungslosigkeit beiträgt.

Meines Erachtens sollte stärker ins öffentliche Bewußtsein gehoben werden, daß Wanderungsbewegungen nicht nur eine europäische, sondern eine weltweite Herausforderung geworden sind; daß die Migrationsbelastungen in den Armutsregionen Afrikas und Asiens ungleich größer sind als in Europa. Und daß von den Leidtragenden dortiger Bürgerkriege und Hungersnöte nur wenige Europa erreicht haben.

Trotzdem möchte ich einer Entdramatisierung gegenwärtiger europäischer Auseinandersetzungen das Wort reden. Denn obwohl Trendanalysen wenig Anlaß zu blauäugigem Zukunftsoptimismus geben, macht es wenig Sinn, durch Horrorszenarien Zukunftsängste zu erzeugen. Gleichwohl: Was immer die grob geschätzten Zahlen ausreisewilliger Osteuropäer und Nordafrikaner wert sein mögen, es besteht aller Grund für politische Vorsorge. Aufgrund extrem ungleicher Lebensbedingungen haben wir mit einem Anschwellen der Wanderungsströme zu rechnen, und deshalb sollten wir

—erstens mehr tun, damit Menschen in ihrer angestammten Heimat bleiben können und auch wollen;

—uns zweitens und gleichzeitig auf ein Zusammenleben mit mehr Ausländern einrichten (wozu ein energisches Angehen gegen Neigungen zur Fremdenfeindlichkeit gehört);

—und drittens über eine gemeinsame europäische Einwanderungspolitik nicht nur reden, sondern mit Nachdruck dafür sorgen, daß sie Wirklichkeit wird.

„Wenig Bereitschaft zur Integration“

Wenn ich mit letztem Punkt beginne, so deshalb, weil — wider vollmundige Vorankündigungen — beim Europäischen Rat in Maastricht in dieser Frage nichts vorwärtsbewegt wurde. Von gemeinschaftlichen, durch die Kommission wahrzunehmenden Kompetenzen war keine Rede. Offenkundig fürchten manche, auch in der Ausländer- und Asylpolitik, den interregionalen Lastenausgleich. So bleibt es bis auf weiteres bei der mühseligen Koordinierung der migrations-relevanten Innen- und Rechtspolitik. Folge der fehlenden Richtlinienkompetenz: jedenfalls Zeitverlust.

Absprachen über kontrolltechnische Maßnahmen sind nicht ohne Bedeutung, aber von wirklichem Fortschritt kann erst gesprochen werden, wenn das nationale Asylrecht der Zwölf endlich harmonisiert ist — und wenn wir eine EG-weite Einwanderungspolitik haben werden.

Einen Streit darüber, ob (West-) Europa überhaupt Einwanderungsregion sei oder werden solle, halte ich für überflüssig. Wir sind es längst. Wegen der externen und internen Rahmenbedingungen werden wir es (nolens volens) auch bleiben.

Wie Zuwanderung geregelt werden kann, mag zum Teil an Erfahrungen außereuropäischer Einwanderungsländer ermessen werden. Den Rat der Experten brauchen wir zur Beantwortung der Frage, ob — zusätzlich zur Anerkennung von „klassischen“ Fluchtgründen (was im deutschen Fall das Grundgesetz vorschreibt) — Quoten nach erweiterten Härtefällen, nach berufsspezifischen oder regionalen Gesichtspunkten der richtige Ansatz für Aufnahme sind.

„Schmelztiegel können recht kalt sein“

Wir haben gewiß davon auszugehen, daß unsere Aufnahmekapazität begrenzt ist; Europa ist nun einmal viel dichter besiedelt als Amerika oder Australien. Überdies weiß jeder, der dort hinter die Fassaden geschaut hat, daß die sogenannten Schmelztiegel recht kalt sein oder werden können.

Wollte man — was vernünftig wäre — die europäische Aufnahme an die objektive Integrationskraft der EG- und Noch-EFTA-Staaten koppeln, so wäre wenig gewonnen, denn die subjektive Bereitschaft zur Integration ist eher unterentwickelt.

Wir kennen die sich in einer Mehrzahl von Ländern häufenden fremdenfeindlichen Exzesse. Ich kann nur empfehlen, ihnen mit gebotener Energie zu begegnen. Und sich um sachliche Aufklärung auch dann zu bemühen, wenn man nicht gleich genügend Gehör damit findet.

Zweifellos sind auch Mehrheiten der Ansicht, daß durch eine hohe (und oft unerwartet rapide) Zuwanderung große Belastungen entstanden sind. Es wäre abwegig, die tatsächlich beträchtlichen Probleme auf kommunaler Ebene kleinreden zu wollen. Den politisch Verantwortlichen kann nur geraten werden, ihr Hauptaugenmerk auf konkrete Engpässe, besonders des Wohnungs- und Arbeitsmarktes, zu richten. In aller Regel zeigt sich im übrigen, daß die akuten Probleme auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt nicht durch die Zuwanderer entstanden, wohl aber häufig verstärkt worden sind.

„Strukturreformen in den Herkunftsländern“

Weil selbst bei bestem Willen weder die jetzige noch die sich erweiternde Europäische Gemeinschaft allen Geplagten dieser Erde zur Heimstatt werden kann, gilt es ernsthaft über meinen ersten Punkt nachzudenken, nämlich: Was kann Europa leisten, damit Menschen in ihrer Heimat bleiben wollen. Dabei hege ich nicht die Illusion, mit wenig Geld und vielen guten Worten sei es getan.

Immerhin, gute Projekte im Rahmen der Entwicklungs-Zusammenarbeit (von denen es mehr gibt, als weithin vermutet wird) bleiben wichtig; und manche Maßnahme, die sich im Süden bewährt hat, kann auch für Länder im Osten hilfreich sein. Noch wichtiger jedoch sind umfassende Programme zur Beschleunigung und sozialen Abfederung von Strukturreformen in den Herkunftsländern. Dabei ist die begründete Hoffnung auf lohnende Perspektiven fast noch wichtiger als der unmittelbar abzulesende Ertrag.

Wenn von Strukturreform die Rede ist, sollten wir auch selbst zu solchen Anpassungsleistungen bereit sein, die Osteuropa und anderen Teilen der Welt bessere Entwicklungschancen eröffnen. Ohne hier in Details zu gehen: Wir haben in der Verschuldungsfrage, der EG-Agrarmarktordnung oder in Energie- und Umweltbereichen noch längst nicht unsere Hausaufgaben erledigt.

Was das Finanzielle anbelangt, werde ich weiterhin insistieren, die durch das Ende des Kalten Krieges greifbare Friedensdividende nicht nur an der jeweiligen „Heimatfront“ zu verteilen. Was das Immaterielle angeht, so sind die Möglichkeiten der Technologie und Wissenstransfers bei weitem nicht ausgeschöpft. Und da es um global verträgliche Entwicklung gehen sollte, haben wir nicht die Wahl zwischen Hinwendung zum Osten oder zum Süden, sondern müssen das eine tun und dürfen das andere nicht lassen.

Ich habe zu diesem Thema hier in Paris nicht sprechen können, ohne mich der Tatsache zu erinnern, daß ich selbst Flüchtling war, als ich in den dreißiger Jahren mehrfach in diese Stadt kam. In aller Offenheit darf ich hinzufügen: So sehr sich mir die erfahrene Gastfreundschaft eingeprägt hat, so wenig taugen damals gemachte Erfahrungen, um die uns heute gestellten Fragen vernünftig zu beantworten. Heute sind europäische Antworten geboten und möglich. Willy Brandt

Leicht gekürzter Text einer Rede, die Willy Brandt am Wochenende in Paris hielt. Sie eröffnete den 95. Bergedorfer Gesprächskreis, der unter dem Motto „Welche Antworten gibt Europa auf die neue Einwanderungswelle?“ tagte.