Allmählich werden die langen Haare grau

■ Der »Arbeitskreis Verkehr« hat die Grünen und Vereinsbildungen überlebt/ Ein Vormittag in dem Ladenbüro wie vor einem Jahrzehnt: Nur das Archiv ist dicker und die Haare sind grauer geworden/ »Bald nicht mehr alles gewaltfrei«

Tiergarten. Wer untersuchen möchte, ob die Alternativbewegung am Ende ist, sieht sich mit einer anderen Frage konfrontiert: Was ist eigentlich eine Bewegung? Die Angelegenheit wäre leicht zu klären, ginge es beispielsweise um das Ballen einer Faust. Die Regung bestünde aus einem Zusammenspiel von Willen, Muskeln und Sehnen. Ginge man anatomisch an die Sache heran, könnte natürlich auch eine politische Bewegung in diverse Fragmente zerlegt werden. Bürgerinitiativen könnten einen Arm bilden, der »Arbeitskreis Verkehr« in der Moabiter Kirchstraße 4 wäre ein Fingerglied.

Die Frage nach einem Ende der Alternativbewegung ist nicht ohne Weiteres zu beantworten, die zum vor 14 Jahren gegründeten Arbeitskreis, der bundesweit an die 2.000 Verkehrsinitiativen koordiniert, schon: Er ist nicht am Ende.

Wie seit eh und jeh sitzen Karl- Heinz Ludewig und Bernd Herzog- Schlagk auch an diesem Januar-Vormittag in dem Ladenbüro des Arbeitskreises im Bezirk Tiergarten. Ludewig, studierter Kartograph, sieht den üblichen Stapel Post durch. Herzog-Schlagk, studierter Straßenbauer, sitzt am Telefon und beantwortet irgendwelche Fragen irgendeiner Verkehrsinitiative von irgendwo. Hätte sich der 44jährige Straßenbauer nicht vor einer Woche seine Haare kurz geschnitten, dieser Morgen unterschiede sich von keinem anderen grauen Wintermorgen der verstrichenen Jahre.

Beide Bürgerinitiativler tragen Strickpullover und Vollbart, in 14 Jahren haben sie nicht einmal einen Computer angeschafft. Nur Herzogs Koteletten und die langen blonden Haare des 34jährigen Ludewig werden allmählich grau. Und in dem dunklen 20-Quadratmeter-Raum im Erdgeschoß sind die Aktenordner, in denen Zeitungsartikel, Gutachten oder Flugblätter archiviert werden, dick und zahlreich geworden.

Die Veränderungen in der Welt gehen an den beiden Koordinatoren nicht vorbei. Als sich die Grünen gründeten, schrumpfte die Kartei aktiver Verkehrsinitiativen. Als sich für manche Parteimitglieder die Erwartungen an den parlamentarischen Kampf nicht erfüllen wollten, schwoll die Kartei in der Kirchstraße wieder an. Bald schossen Vereine wie der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) oder der Verkehrsclub Deutschland (VCD) wie Pilze aus dem Boden — die Anzahl engagierter Verkehrsinitiativen nahm erneut ab. Doch als sich unter den neuen Vereinsmitgliedern herumsprach, daß ihre Organisationen den Widerstand im Kiez oder auf dem Land nicht ersetzen können und in Bonn oder beim Entwerfen von Landesgesetzen zwar mitreden, nicht aber mitbestimmen dürfen, quollen die Kästen mit Adressen stärker an als je zuvor.

Ludewig, seit neun Jahren beim »Arbeitskreis Verkehr«, und Herzog-Schlagk, seit Beginn vor 14 Jahren dabei, wissen, warum sie nicht in die Politik gegangen oder später Vereinen beigetreten sind. Bei beiden Organisationen ginge es nicht mehr um das Wesentliche, sagt Herzog- Schlagk: »Die ersten müssen Wähler werben, die zweiten Mitglieder.« Wenn eine kleine Bürgerinitiative aus Lübeck beim VCD nachfrage, was eine neue Autobahn um die Hansestadt bewirken würde, bekämen sie nur allgemeine Antworten, vor allem aber einen Hochglanzkatalog des Clubs geschickt.

Beim »AK Verkehr«, der seine Ausgaben zu gleichen Teilen aus Spenden, Unkostenbeiträgen und öffentlichen Fördermitteln deckt, werde aus dem 500 Leitz-Ordner dicken Archiv das Material zum speziellen Thema zusammengesucht, sagt Herzog. Der Arbeitskreis brauche nicht jeder Elterninitiative, die eine Ampel vor einer Schule fordert, das Wort reden. »Auch auf die Gefahr hin, daß sich die Eltern nicht wieder melden, können wir hinterfragen, ob die gewünschte Lichttechnik die tatsächlichen Sicherheitsprobleme löst«, sagt Ludewig. Der ADFC betrachte solche Fragen hingegen nicht problembezogen, sondern »mitgliedsorientiert«.

Der »Arbeitskreis Verkehr« bietet aber nicht nur eines der komplettesten Verkehrsarchive, sondern jedes Vierteljahr den zig Seiten starken »Informationsdienst Verkehr«. Alle zwei Jahre organisieren die Mitarbeiter einen bundesweiten Verkehrskongreß. Der Preis, den die beiden Verkehrskämpfer für die Dienstleistung ohne Kundenwerbung zahlen, kann sich sehen lassen: Der vollangestellte Herzog-Schlagk »verdient« im Monat 1.000 Mark. Eine Stelle wird über ABM finanziert, zwei Leute sind »geringfügig« beschäftigt. Herzog, Vater von zwei Kindern, kann sich den Job nur leisten, weil seine Frau als Lehrerin »gute Einkünfte« erzielt. Ludewigs Freundin arbeitet halbtags an der Uni. »Wir machen uns Sorgen um unsere finanzielle Absicherung«, gibt der Aktivist zu, der eine fünf Monate alte Tochter hat. Dennoch habe der Kartograph nie »ernsthaft« überlegt aufzuhören. Die beiden wissen, daß ihre Koordinationsarbeit in den kommenden Monaten und Jahren wichtiger wird als bisher. »Alles deutet darauf hin, daß die Verkehrsproblematik schlimmer werden wird«, schätzt Ludewig. In Berlin favorisiere der Senat einen Autotunnel unter dem Tiergarten und den Ausbau des Innenstadtrings. Die Demokratie werde dabei immer weiter abgebaut: Ob nun die politischen Entscheidungen gefallen sind, bevor sie der CDU-Senator in der Verkehrswerkstatt zur Diskussion stelle oder Berlin und SPD-regierte Länder dem Beschleunigungsgesetz zugestimmt hatten. »Es wird nicht mehr alles gewaltfrei ablaufen«, glaubt Familienvater Herzog-Schlagk. Darauf läßt er sich zum ersten Mal einen Kaffee nachschenken. Dirk Wildt