: „Da entsteht eine Trotzreaktion“
Bei der Urabstimmung der Stahlarbeiter hat sich der Wind gedreht/ Kaum noch Vorbehalte gegen Streik/ Gewerkschaftsfunktionäre sind selbst überrascht: Eine große Mehrheit für den Streik ist sicher ■ Aus dem Revier Walter Jakobs
Markus Banaszak, 25jähriger Kaltwalzwerker im Bochumer Krupp- Stahlwerk, überlegt nicht lange: „Wie die Stimmung ist, wollen Sie wissen? Die ist gut. Die meisten Leute stehen dahinter.“ Markus Banaszak steht am Montag in einem der sechs Wahllokale auf dem riesigen Krupp-Gelände Schlange. „Die Tarifkommission empfiehlt: Stimme mit JA“, so steht es auf dem Stimmzettel — und die wartenden Stahlkocher werden genau das tun. „Im Walzwerk stimmen alle für den Streik“, da ist sich Thomas Lepper sicher. Vor zwei Wochen noch war der 26jährige „beim Bund“; vom Verlauf des Tarifpokers weiß er nicht viel. Sein Vater, ebenfalls „Kruppianer“, hat ihn auf das Ja eingestimmt.
Streiken für ein paar Zehntelprozente mehr? „Nein, es geht nicht um Pfennige, sondern darum, daß die Schere zwischen den Löhnen in der Stahl- und der Metallindustrie nicht weiter auseinandergeht“, sagt Helmut Wilzek (55), Leiter der gewerkschaftlichen Vertrauensleute bei Krupp in Bochum. Genau diese Lohndifferenz, die durch die längeren Laufzeiten der Stahltarifverträge aufgebaut wurde, treibt die Stahlkocher auf die Palme und an die Urnen. Der Ecklohn bei Stahl liegt zur Zeit bei 14,29 DM. In der Metallindustrie wird als Ecklohn 15,42 DM gezahlt. Ein Elektriker, der bei Krupp-Stahl arbeitet, verdient sogar rund 2 Mark pro Stunde weniger als der Elektriker, der nur eine Tür weiter bei Krupp-Industrietechnik schafft. „Wenn wir jetzt keine Angleichung bekommen“, fürchtet Krupp-Betriebsratschef Herbert Kastner, „sind die Chancen auf Lebenszeit weg“. Der jetzt umkämpfte Stahltarifvertrag, der schon seit dem 1. 11. 1991 gelten müßte, gehört eigentlich noch zur Tarifrunde 1991. Seit Oktober vergangenen Jahres wurde verhandelt. Ein Ausgleich zu den Metallarbeitern, die 1991 6,7 Prozent mehr Lohn erhielten, wäre dann erreicht, wenn der Stahl-Ecklohn von 14,29 Mark um 16 Pfennige vorweg angehoben würde und es darauf noch einmal 6,7 Prozent mehr Lohn gäbe. Die Gewerkschaft würde aber schon zustimmen, wenn es gelänge, diese Lohnerhöhung nur für den letzten Monat des jetzt zu findenden Abschlusses festzuschreiben. Die anderen 11 Monate könnten zum Beispiel mit Abschlagszahlungen abgegolten werden. Es geht also nicht darum, den Lohnzuwachs oder das Volumen für den bis zum 31. 10. 92 abzuschließenden Vertrag insgesamt auf 6,7 Prozent zu steigern, sondern es geht um die Lohnstruktur, die es den Stahlkochern erlaubt, die nächste Tarifrunde auf der Basis der Metallecklöhne zu beginnen. Auch wenn vielen Stahlkochern diese tarifpolitischen Winkelzüge und Details fremd bleiben — eine unterschiedliche Bezahlung für gleiche Arbeit im selben Konzern stinkt ihnen. Das hört man überall in der Branche, nicht nur bei Krupp in Bochum.
„In den letzten Tagen hat es einen Umschwung gegeben“, sagt Günther Spahn, Geschäftsführer des Thyssen-Betriebsrates in Duisburg- Hamborn, wo rund 21.000 Stahlkocher in Conti-Schicht schwitzen — sieben Tage die Woche rund um die Uhr. Der seit Jahrzehnten als aktiver, unerschrockener Gewerkschafter über Thyssen hinaus bekannte Spahn hat „überhaupt keinen Zweifel“, daß das für Streik notwendige 75-Prozent-Quorum bei dieser Urabstimmung erreicht wird. Inzwischen sei in den Betrieben klar, daß „es nicht um Pfennige geht, sondern um die Verhinderung der dauerhaften Einkommensabkopplung“. Spahn meint kämpferisch: „Da entsteht eine Trotzreaktion, denn die Schmerzgrenze ist für viele Kollegen jetzt erreicht.“
Bei Krupp in Bochum hatten am Montag mittag schon über 50 Prozent der knapp 5.000 Beschäftigten abgestimmt. In den Wahllokalen bei Thyssen herrschte vergleichbarer Andrang. „Der Trend ist so positiv, daß ich selbst überrascht bin“, sagt Krupp-Betriebsrat Kastner in Bochum, und sein Kollege Spahn kann ihm da nur zustimmen: „Es entwickelt sich eine sehr gute Stimmung.“ Färben so Gewerkschaftsfunktionäre das tatsächliche Stimmungsbild schön? Das zu vermuten läge nahe, doch wer sich an den Stahlstandorten umhört, findet solche Einschätzung auch von anderer Seite bestätigt. Das Verhalten der „Christlichen-Metaller“, die seit ewigen Zeiten im Clinch mit der IG-Metall stehen, spricht Bände über die Stimmung in den Stahlhütten. Zwar ruft die etwa 3.000 Mitglieder starke Kleinstgewerkschaft nicht zur Urabstimmung auf. Aber auf einem in Duisburg- Rheinhausen verteilten Flugblatt wird das Ergebnis der IGM-Urabstimmung schon vorweggenommen: „Stahlstreik 92 — Christliche Metaller sind solidarisch! Beteiligt Euch!“
Daß alle Signale in Richtung Streik weisen, spüren auch die wenigen Unorganisierten, die bei einem Streik ohne jede Unterstützung dastünden. „Viele“, so sagt Reiner Schuh vom Rheinhausener Betriebsrat, „sind in den letzten Tagen eingetreten.“ Es wird ihnen allerdings kaum helfen, denn Streikunterstützung gibt es erst nach dreimonatiger Mitgliedschaft.
Ausgezählt wird am Freitag. Über den Ausstand entscheidet hernach der IG-Metall-Vorstand in Frankfurt. Theoretisch wäre zwar eine Einigung bis zum Streikbeginn noch möglich, doch die Erfahrungen in der Stahlindustrie sprechen dagegen: Nach der Urabstimmung folgte immer der Streik. Daß es diesmal anders kommen könnte, schließen indes auch betriebliche Funktionäre wie Hlemut Wilzek nicht gänzlich aus: „Wenn die Arbeitgeber sich bewegen — vielleicht. Wir sind nicht streikwütig.“
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