„Den Haß nehme ich mit ins Grab“

Nordirland 20 Jahre nach dem „blutigen Sonntag“, an dem die britische Armee in eine Demonstration schoß und 13 Menschen tötete — ein Wendepunkt für die IRA. Heute reden selbst britische Militärs von Truppenabzug.  ■ VON RALF SOTSCHECK

Der Linienbus nach Derry ist unpünktlich. Wir stehen an der Haltestelle im Dubliner Arbeiterviertel Finglas. Bereits zum vierten Mal fährt das dunkelrote Auto mit den beiden Beamten vom Verfassungsschutz langsam an der Haltestelle vorbei. Diesmal hält es an. Ohne zu fragen, wohin wir wollen, sagt der Beamte mit dem dichten, schwarzen Schnauzbart: „Seid vorsichtig. Es hat Morddrohungen gegeben.“ Dann notiert er noch unsere Namen und Adressen.

Der Busfahrer spielt eine Kassette mit irischen Freiheitsliedern ab, die ihm ein Fahrgast gegeben hat. Kurz vor der nordirischen Grenze bei Aughnacloy stellt er das Radio wieder ab. Aughnacloy — hier wurde vor ein paar Jahren ein junger Mann von einem Soldaten erschossen, als er auf dem Weg zu einem Fußballspiel war. Ein Unfall, stellte das Gericht später fest. Die Kugel hatte sich beim Reinigen des Gewehrs gelöst. Die Grenzanlage ist durch Schranken, Rampen und verwinkelte Betonmauern gesichert. Zwei Soldaten dirigieren den Bus in eine große Wellblechhalle. Bis auf ein paar Werkzeuge und einen Resopaltisch mit vier Stühlen, die wie für ein Verhör angeordnet sind, ist die Halle leer. Ein braungebrannter Soldat im Overall betritt den Bus und läßt sich schweigend von jedem Fahrgast den Ausweis, Führerschein oder die Arbeitslosenkarte zeigen, notiert Namen und Adressen und steigt wieder aus.

„Das Wetter ist genau wie damals“

Kurz vor Derry wiederholt sich die Prozedur. Am Busbahnhof in der Innenstadt ist Endstation. Bis nach Creggan, dem katholischen Ghetto auf der Westseite Derrys, sind es noch 20 Minuten zu Fuß. Aus allen Richtungen strömen Menschen in kleinen Gruppen die steilen Straßen hinauf. Hinter einer Wiese mit einem Spielplatz liegt Central Drive, eine schmale Straße mit kleinen, grauen Reihenhäusern. Tausende von Menschen haben sich bereits versammelt, darunter mehrere Kapellen in Uniformen. Kurz nach 15 Uhr setzt sich der Demonstrationszug, der inzwischen auf knapp 10.000 Menschen angeschwollen ist, in Bewegung. „Das Wetter ist genau wie damals“, sagt Joe, ein Steuerbeamter. „Sonnig, aber eiskalt.“

Damals war Sonntag, der 30. Januar 1972. An derselben Stelle hatten sich fünfzehn- bis zwanzigtausend Menschen versammelt, um für Bürgerrechte in Nordirland zu demonstrieren, die in Westeuropa als selbstverständlich galten: gleiches Wahlrecht, keine Diskriminierung bei der Vergabe von Jobs und Sozialwohnungen. Bereits in den Wochen zuvor hatten zahlreiche Demonstrationen im ganzen Land stattgefunden, Derry sollte der Höhepunkt werden. In der zweitgrößten nordirischen Stadt kam es fast jeden Nachmittag zu Steinschlachten zwischen Jugendlichen und der britischen Armee. Die katholischen Viertel waren von den Bewohnern durch hohe Barrikaden gesichert worden, Creggan und Bogside waren für die Soldaten „No go areas“, in die sie keinen Fuß zu setzen wagten. An der Wand am Eingang der Bogside stand in großen, schwarzen Lettern: „You are now entering Free Derry“.

Der Londoner Regierung waren die Bilder, die aus Derry um die Welt gingen, schon lange ein Dorn im Auge. So entschloß man sich, das 1.Fallschirmjäger-Regiment für diesen Tag aus Belfast zur Verstärkung heranzuziehen. „Das ganze Training eines Fallschirmjägers ist auf Aggression aufgebaut“, sagte ein Kompanieführer der betreffenden Einheit am Dienstag in einem BBC- Interview. „Wir hatten den Befehl, Steinewerfer zu verhaften.“

Um 15.25 Uhr erreichte der Demonstrationszug das Bogside Inn, die Kneipe im Herzen des Freien Derry. Der Marsch sollte am Guildhall-Platz an der Stadtmauer im Zentrum mit einer Kundgebung enden, doch die Soldaten hatten die Straße gesperrt. Während die Organisatoren versuchten, den Zug in die Rossville Street umzuleiten, kam es an der Spitze der Demonstration zur üblichen Steinschlacht. Um 15.55 Uhr schwärmten die Fallschirmjäger aus und eröffneten ohne Vorwarnung das Feuer. Eine Stunde später lagen dreizehn Tote auf der Straße. John Johnston, der als erster von einer Kugel getroffen wurde, starb fünf Monate später.

„Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie der 17jährige Jackie Duddy ermordet worden ist— und dieses Wort gebrauche ich bewußt“, sagt Bischof Edward Daly. „Er hatte versucht wegzulaufen. Ich habe mindestens zehn oder zwölf der Opfer die Sterbesakramente verabreicht, als sie auf der Straße lagen. Keiner von ihnen war bewaffnet.“ Andere Augenzeugen berichteten, daß Gerald McKinney mit erhobenen Händen auf einen Soldaten zuging, als dieser ihn erschoß. Die forensische Untersuchung bestätigte das.

„Ich akzeptiere nicht, daß die Opfer unschuldige Zivilisten waren“, sagt der Kommandant der Fallschirmjäger, Colonel Derek Wilford, noch heute. „Denn wenn das der Fall wäre, würde das bedeuten, daß meine Soldaten im Unrecht waren, und das kann ich nicht glauben. Es war eine Kriegshandlung.“ Das anschließende Tribunal unter Lord Widgery gab ihm recht. Widgery ignorierte Zeugenaussagen und forensische Beweise. Er stützte sich einzig auf die Aussagen der beteiligten Soldaten. Es kam zu keiner Anklage — im Gegenteil: Colonel Wilford wurde für seine Rolle am „Bloody Sunday“, wie der Tag seitdem heißt, von der Armee ausgezeichnet.

„An diesem Blutsonntag haben wir die jungen Leute verloren“, sagt Bischof Daly. „Sie gingen weg und schlossen sich der IRA an.“ Gerry Donaghey war 17, als er von den Kugeln der Fallschirmjäger getroffen wurde. Sein Freund Denis trug den Schwerverletzten ins nächste Haus und rannte dann wieder auf die Straße, um sich um andere Verletzte zu kümmern. Raymond Rogan erinnert sich: „Wir wußten nicht, wer er war, und durchsuchten seine Taschen nach einem Hinweis auf seine Identität. Wir fanden nichts, die Taschen waren leer.“ Rogan lud den Sterbenden in sein Auto und fuhr in Richtung Krankenhaus. Unterwegs wurde er von der Armee angehalten und aus dem Auto gezerrt. Die Soldaten nahmen Rogans Wagen und brachten Donaghey zur Kaserne, wo der Armeearzt seinen Tod feststellte. Auf den Fotos, die die Armee später dem Widgery-Tribunal vorlegte, hatte Donaghey plötzlich zwei große Nagelbomben in der Tasche.

Erst in die IRA, dann in den Knast

„Das hat mir deutlich gemacht, was britische Einmischung in Irland wirklich bedeutet“, sagt Donagheys Freund Denis. „Ich wollte irgend etwas dagegen tun, nicht nur aus Rache für Gerry.“ Denis trat der IRA bei und wurde später zu sechzehn Jahren Gefängnis wegen Mordversuchs an sieben Soldaten verurteilt. Vor drei Jahren kam er frei. „Ich bin damals mit fünf Freunden zur Demonstration gegangen“, erzählt er. „Wir alle landeten zuerst bei der IRA und schließlich im Gefängnis.“ Auch Michael Kelly war 17, als er am „Bloody Sunday“ ermordet wurde. Seine Mutter Kathleen mußte danach Jahre in einer psychiatrischen Anstalt verbringen. „Wenn ich mit diesem Fallschirmjäger machen könnte, was ich wollte — ich würde ihm das Gehirn wegpusten“, sagt sie noch heute. „Ich würde dreizehn Kugeln in ihn hineinpumpen. Ich hasse ihn, und diesen Haß nehme ich mit ins Grab.“

Das „Freie Derry“ gibt es längst nicht mehr, auch wenn die Giebelwand in der Nähe des Bogside Inn noch immer verkündet: „You are now entering Free Derry“. Der Rest des Hauses ist abgerissen worden. Bei der Gedenkdemonstration am vergangenen Sonntag ist von den „Sicherheitskräften“ nicht viel zu sehen. Lediglich auf einer Brücke hoch über der Rossville Street haben sich etwa zwanzig Polizisten postiert. Die Abschlußkundgebung kann diesmal ungehindert auf dem Guildhall-Platz abgehalten werden, wo die Demonstranten vor zwanzig Jahren nie ankamen.

„Ich war damals nicht dabei“, sagt Colette aus Belfast, „weil uns der Autofahrer unterwegs rausgeschmissen hatte, als er hörte, wo wir hinwollten. Bloody Sunday war der Wendepunkt für die IRA. Seitdem kann die britische Armee diesen Krieg nicht mehr gewinnen. Irgendwann muß sie abziehen.“ Zu dieser Einsicht ist inzwischen auch Colonel Wilford gelangt. „Wir müssen eine positive Entscheidung treffen, um diesen Krieg zu beenden“, sagte er am Dienstag im BBC-Interview. „Und wenn dafür der Rückzug unserer Truppen notwendig ist, dann müssen wir das eben tun.“