: Weil man doch mittags warm essen müsse
■ Berliner Kantinen/ Orte der Begegnung, Orte der Entspannung — für Raucher und Junggesellen/ An Tischen mit Plastikdecken vermischen sich Stimmen von Hilfsarbeitern bis höheren Angestellten/ Kantinen-Typen und Atmosphären
Berlin. Die Kantine ist am Anfang oder am Ende; nie mittendrin. Unten, im Erdgeschoß; oben, unterm Dach. Die Kantine ist Ort der Begegnung, Ort der Entspannung; zwischen den Pausen heißersehnter Raucherraum manchmal. Die Kantine färbt den Teint der Arbeitenden. Grundsätzlich lassen sich zwei Kantinen-Kategorien unterscheiden: die, die allen offenstehen — preislich allerdings meist zwischen Betriebsangehörigen und Betriebsfremden unterschieden — und die, die den Betriebsangehörigen vorbehalten sind. Ein selbstverständliches Auftreten jedoch öffnet für gewöhnlich den Weg in die kulinarischen Alltäglichkeiten Berlins.
»Besucher« sind vor allem alleinstehende Junggesellen: Männer, die zu dumm sind, sich selbst was zu kochen und auch keine Lust dazu haben; Einzelgänger, denen der Trost eines festen Angestelltendaseins verwehrt ist; altgewordene Jungs, denen Muttis Mahnung noch im Hirn klebt, man müsse doch mittags warm essen. Freiberufler subversieren kenntnisreich und immer höflich die Kantinenlandschaft Berlins.
Ein Restaurant, um sich von Prolos abzugrenzen
Ein Mittagessen lang geben sie sich der Illusion hin dazuzugehören und erzählen von Vor- und Nachteilen anderer Kantinen. Daß »die beim 'Tagesspiegel‘« so komisch aussähen, das läge an der Kantine, so hört man; daß es das beste Essen im »Letteverein« geben würde, daß die Kantine der 'Berliner Zeitung‘ ausgelagert wäre und man Coupons dort bräuchte, und dazu müsse man schon ein paar 'Berliner Zeitung‘-Menschen kennen.
Im weiten Raum der SFB-Kantine am Theodor-Heuss-Platz schwirren die Worte so umher und tun sich nicht weh. Glücklich und am Ende schwieriger Morgenarbeiten, fassen sich ein paar Rundfunkmenschen an den Händen, gehen hinaus auf den Dachgarten und springen lustig hinunter.
Um sich von den »Prolos« abzugrenzen und den Repräsentationswünschen der oberen Chargen genüge zu tun, gibt es neben der Kantine manchmal noch ein Restaurant für die gehobeneren Ansprüche. Den »Toni« beim RIAS zum Beispiel, denn die Kantine im fünften Stock des Senders schwankt zu sehr zwischen den Genres, um angenehm zu sein. »Im Treppenhaus Malerarbeiten. Danke, der Onkel Maler!«, verkündet vielversprechend zwar ein handgemaltes DIN-A3-Blatt im Fahrstuhl des Senders, doch der Versuch, im ausgebauten Dachgeschoß — rustikal, mit viel Holz und warmem Licht — Gemütlichkeit zu demonstrieren, mißlingt.
Nicht weil es ungemütlich wäre, oder das Essen schlecht, sondern weil man doch gleich ins Restaurant gehen kann, wenn man's gemütlich haben will, und es allen guten Kantinenregeln widerspricht, sich bedienen zu lassen. 36 Bierkrüge, die auf einem Bord über der Küchendurchreiche stehen, verhindern die sachliche Nachdenklichkeit, in die man schon nach zwei Minuten im Schöneberger Arbeitsgericht in der Lützowstraße zum Beispiel fällt. Hell und nüchtern, mit leichtem Blaustich ist die Atmosphäre dort. Der Blick geht übers Dach und weiter. Am Nebentisch trauert man über zu geringe Abfindungen oder denkt schaudernd an die erkämpfte Wiedereinstellung.
Im Moabiter Gericht liegt der Erfrischungsraum schmucklos und nüchtern im Keller. Verteidiger, die eben noch im Blitzlichtgewitter standen oder gutgelaunt im Gerichtssaal die Einladung Gorbatschows forderten, plaudern mit ihren schwarzgerobten KollegInnen im Raucherbereich. Doch vor allem — und das macht eigentlich jede Kantine zum sympathischsten Raum öffentlicher Häuser — essen hier Gerichtsdiener, Handwerker, Techniker, Arbeiter. Wenn der Mittagsansturm vorbei ist, ruhen sich die Kantinenangestellten an einem Tischchen in der Nähe des Tresens aus.
Wochenendfaulheit in den Gängen
Am Freitagvormittag schon verteilt sich Wochenendstimmung und Faulheit in den endlosen Gängen des ehemaligen Hauses der Ministerien (jetzt: »Treuhand«). Wirtschaftsmacht wird hier unter anderem mit drei Räumen demonstriert. Im ersten stehen ein paar Manager in teuren blauen Stoffmänteln an weißen runden Imbißtischchen und essen Currywurst mit Ketchup; im dritten — dem »Kasino« — darf man rauchen. Das Kantinenrestaurant, Prunkstück des Hauses in der Leipziger Straße, ist ungefähr zehn Meter hoch und an drei Seiten verglast. Zwischen subtropischen Sukkulenten und palmenähnlichem Grünzeug scheint die Sonne herein und erfreut das Herz milchgesichtiger Jungmanager, greiser Wirtschaftsexperten, Arbeiter und nichtsnutziger Jeansträger. Rot, am Rand auch weiß, schimmern die Plastetischdecken. Auf jedem Tisch warten kleine Plastikblumensträuße neben einem Set aus »Knorr- Aroma-Würzmittel«, (»macht das Essen delikat«) Maggi, Salz und Pfeffer. Kassengeklimper, Gesprächsfetzen, Stühlerücken und ein paar Schritte auf dem Steinfußboden vermischen sich in der Luft. Die Akustik ist großartig. Kaffee kostet 60 Pfennig, und die Manager werden vermutlich woanders essen.
Kein »Oberschülertypus« im Rundfunkzentrum
Die schönste Kantine findet sich jedoch im ehemaligen Rundfunkzentrum der DDR in der Nalepastraße. Restaurant- und Imbißbereich verteidigen auf verlorenem Posten die DDR-typischen Farbtöne — Beige- und Braunreihen — gegen das ansonsten republikweit dominierende Violett und Knallrosa. In der DDR hatte man keine Patente für echte Farben, erklärt mir ein netter Techniker. Daher arbeitete man mit Ersatz. Die Kantine in der Nalepastraße ist eine Oase, in der man nur selten dem in Westmedien vorherrschenden »Oberschülertypus« begegnet, dessen ganzes Denken nur noch um Marktchancen kreist; statt dessen sieht man äußerst sympathische Radioberühmtheiten wie die DJs Lutz Schramm und Roland »electric« Galenza, Silke Hasselmann, Dorothee Hackenberg, Angela Gobelin oder Marion Brasch. Furnierte Spanplatten über der Essensausgabe beruhigen aufgeregte Mitarbeiter. Gegen Essenmarken oder Bons erhält, wer will, Gericht 1, 2, 3 oder 4. Zwischen 11 und 14 Uhr soll man nicht rauchen, steht auf einem Schildchen. Aufgeregt rauchend, drängen sich alle im Schnelleßbereich. Der Kaffee kostet 70 Pfennig. Mit Zucker und Milch. Manch einer nimmt ein Magenbitter. Ein Grüppchen entlassener Mitarbeiter um die 40 schlendert vorbei und will »einen trinken«. Ein Kollege erzählt vom SFB-Chef: »Der hält uns doch alle für verkappte Kommunisten, die eigentlich ins Gefängnis gehören«, und am Rande lästert jemand über den greisen DT-64-Chef.
In manche Kantine gerät man eher, als daß man sie aufsucht. Irgendwie geschieht es, daß man immer häufiger bei Hertie am Halleschen Tor herumsitzt und es versonnen zwischen Tellerklappern und Wortfetzen sehr angenehm findet, ins diffuse blau-graue Licht hinaus- und auf die AGB herunterzugucken.
»Le Buffet« heißt das Restaurant, doch der bescheuerte Name trügt. Ein stilles zurückgenommenes Leben erwartet den Gast hier. »Berliner Kindl« steht da auf dem Tisch; daneben was zu essen, zwischen 8 und 16 Mark. Vor der runden Fensterfront schlängeln sich kaum ein Meter hohe Geländer, als gäbe es einen Balkon dort draußen. Dahinter sind Netze, vielleicht, um die Unglücklichen, die, von der Sechziger-Jahre-Atmosphäre ins Herz getroffen, hinausspringen möchten, sanft aufzufangen. In sich selbst versunken, sitzen Einzelkäufer stundenlang allein an ihren Tischen und trinken entschlossen ein Alkoholfreies.
Schweigend und erschöpft vom Kaufen, gucken Töchter an ihren Eltern vorbei und haben sich nichts mehr zu sagen. Viele alte Menschen denken, an einem Kaffee nippend, ihrem Leben hinterher. Betriebsangehörige gruppieren sich umeinander und bleiben selten länger als ein Viertelstündchen. Sanft raschelt die 'Bild‘-Zeitung beim Blättern. Rauchend reden Ehepärchen über Geld und Kredite. Weiße Kunstblumen verstärken die angenehme Melancholie des Ortes. Draußen warten nette Punker auf ein bißchen Kleingeld. Detlef Kuhlbrodt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen