: Schlag ins Genick
■ Betr.: Fotoreportage „Arbeitsalltag im Martinshof“, taz vom 25.1.92
Bremen hat also die größten Werkstätten für Behinderte in der BRD — hochinteressant! Leider haben wir nicht erfahren, warum es notwendig erscheint, so viele behinderte Menschen in einer Sondereinrichtung zu beschäftigen, ja, die Sondereinrichtung wurde nicht einmal als solche benannt! Ebensowenig haben wir erfahren, daß es seit Jahren Konzepte und Bestrebungen gibt, Bedingungen zu schaffen, daß behinderte Menschen in regulären Betrieben etc. arbeiten können, z. B. die sogenannten „Unterstützten Beschäftigungsverhältnisse“. Kein Wort darüber, daß die in der „Werkstatt Bremen“ Beschäftigten weder Arbeitsverträge noch Arbeitnehmerrechte haben; keine kritische Betrachtung der Tatsache, daß sich Betriebe wie Daimler mit der Vergabe von Aufträgen an die Sondereinrichtung davon freikaufen, im eigenen Betrieb 6 % Behinderte zu beschäftigen. Auch kein Wort darüber, daß es sich vorwiegend um monotone Tätigkeiten handelt, die „Leistungsprämie“ quasi im Akkord erarbeitet werden muß. Und wer würde 36,5 Stunden arbeiten, um am Ende gerade den Sozialhilfesatz herauszubekommen — und den nicht mal als Verdienst, sondern als Almosen?
Statt dessen eine verharmlosende Darstellung, die noch dazu das gängige Bild von Behinderten reproduziert: fröhlich sind sie und hören Peter Alexander, und richtig arbeiten können sie halt doch nicht, denn sonst müßte ja nicht der Werkstattmeister mit „mehr Personal“ (?) Überstunden schieben, während die Behinderten gemütlich zu Hause sitzen (was für viele „Heim“ bedeutet).
Alles in allem gibt der Artikel völlig unreflektiert den Status Quo wieder und bestätigt damit allen, die es schon immer wußten, daß die Sondereinrichtung „Werkstatt für Behinderte“ das einzig Wahre und Richtige für behinderte Menschen ist. Doch damit nicht genug, es mußte auch noch eine „Fotoreportage“ sein, nicht etwa mit Bildern aus dem Arbeitsalltag, sondern mit namentlich gekennzeichneten Porträts von Personen, auf die sich der Artikel überhaupt nicht bezieht. Wozu? Um die Seite zu füllen? Und die Namen daruntergesetzt, um zu verschleiern, daß hier Behinderte mal wieder zum Objekt gemacht werden? Dieser Artikel ist ein Schlag ins Genick aller Menschen, die seit Jahren gegen die Normalität der Aussonderung arbeiten.
Für die Bremer Krüppelfrauen:
Swantje Köbsell
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