■ BETEN, HERUMLUNGERN, WEGGEHEN
: Stationen einer Reise in den armen südöstlichen Teil der Türkei. Kurdistan im November

Stationen einer Reise in den

armen südöstlichen Teil der Türkei. Kurdistan im November.

VONLUDWIGPAUL

Van

„Balik, Balik, baliiik!“ ruft Erdogan, der Fischverkäufer, aus allen Leibeskräften und weist auf die Forellen und Zahnkarpfen, die er auf seinem Handkarren ausgelegt hat. Neben ihm steht Mehmet und wendet mit geübtem Griff die Maiskolben in dem Kohlegrill, den er vor sich aufgebaut hat, hin und her. Er nimmt einen heraus, salzt ihn und wickelt ihn in ein Stück Papier, um ihn einem Passanten zu überreichen.

Alltag im Basar von Van. Nichts deutet darauf hin, daß da, wo heute Fisch und geröstete Maiskolben verkauft werden, gestern nacht eine Schießerei zwischen Kurden und türkischer Polizei stattgefunden hat. Ein Polizist schwer, einer leicht verletzt. Zwei Kurden erschossen, drei verwundet und verhaftet. Dutzende von Wohnungen durchsucht. „Das ist normal hier“, sagt Erdogan. „Hier ist Kurdistan, hier herrscht Krieg.“ Erdogan ist 28 Jahre alt. Er hat Wirtschaftswissenschaften studiert. Im fünften Semester wurde er wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen kommunistisch-kurdischen Partei angeklagt. „Drei Monate Untersuchungshaft“, sagt er, „Folterungen, dann zwei Jahre Gefängnis. Anschließend durfte ich nicht weiterstudieren. Und mit meinen Papieren bekomme ich nirgends Arbeit. Was soll's — tagsüber fahre ich Taxi, und abends verkaufe ich Fisch.“

Van ist mit 200.000 Einwohnern Provinzhauptstadt im armen äußersten Südosten der Türkei. Ehemals ein blühendes Zentrum armenisch- christlicher Kultur mit Sitz eines englischen und französischen Generalkonsuls, wechselte die Stadt in den Wirren des 1. Weltkriegs dreimal den Besitzer.

Im Frühjahr 1915 widersetzten sich die Armenier von Van der Massendeportation seitens der osmanischen Regierung. Zwei Monate lang trotzte die belagerte Stadt der Armee, bevor sie fiel; die Männer wurden umgebracht, die Frauen hatten die Wahl zwischen Schwert und türkischem Herd.

Horkum...

...liegt 30 Kilometer südlich von Van am Ufer des Sees. Etwa 200 Familien leben in diesem Dorf. In den heißen Sommermonaten zieht ein Teil der Bewohner mit den Schafherden ins nahegelegene Gebirge, um dort das Sommerlager (yayla) aufzuschlagen.

Eine Schar von Schuljungen eskortiert den Besucher durch die engen, staubigen Gassen, vorbei an fensterlosen Lehmbauten aus dem letzten Jahrhundert, zum Haus des Muchtars (Dorfvorstehers). „Salaam alaikum“, grüßt der alte, noch rüstige Mann und bietet Tee und frischen Schafskäse aus eigener Produktion an. „Horkum ist das wohlhabendste Dorf der Umgebung, aber die Landwirtschaft verliert immer mehr an Bedeutung. Für unsere Tomaten, Kartoffeln und Gurken bekommen wir am Markt kaum noch etwas. Zum Sparen bleibt nichts übrig; wer nicht von der Hand in den Mund leben will, geht zum Arbeiten in die Stadt.“

Auch dem türkischen Staat ist das yayla-System ein Dorn im Auge. Denn auf der Hochalm kampierende Kurden entziehen sich dem Zugriff des Staates; die Guerilla der PKK fühlt sich hier sicher.

An der landwirtschaftlichen Fakultät der Stadt Van ist das yayla-System schon längst kein Thema mehr. „Dieses mittelalterliche, halbnomadische Weidesystem wird in der modernen Türkei bald der Vergangenheit angehören“, gibt sich der Dekan der Fakultät zuversichtlich. Er stammt aus Samsun, von der Schwarzmeerküste, und auch seine drei Assistenten hat er sich aus Samsun geholt. Zusammen betreiben sie neben der Universität einen einträglichen Supermarkt. Daß der Professor darüber die Forschung oder Lehre vernachlässigt, kann nicht sein. Denn seit einem Jahr importiert die Region Van unter seiner Ägide deutsches Fleckvieh!

Im Empfangszimmer des Muchtars herrscht reger Betrieb. Männer kommen und gehen, bitten um eine Auskunft, tauschen Neuigkeiten aus, trinken, am Boden sitzend, einen Çay. Dezent sitzen die Frauen des Hauses im Hintergrund und huschen von Zeit zu Zeit hin und her, um Tee nachzugießen oder um eine neue Schale Käse auf die Tabletts am Boden zu stellen. „Die Älteren sprechen meist kurdisch, die Jüngeren fallen oft ins Türkische. Die 80jährige Mutter des Muchtars ist die einzige, die nur gebrochen türkisch spricht. „In den Dörfern hier leben nur Kurden“, erklärt Murat, der älteste Sohn des Muchtars, der im Nachbardorf Grundschullehrer ist. Von den Kurden der Region Van gehört etwa ein Viertel dem Stamm der Bürüken an. Geschlossen wurden sie nach dem Ersten Weltkrieg in den Dörfern der vertriebenen Armenier angesiedelt. Noch heute halten die Bürüken zusammen und werden von den alteingesessenen Kurden als Zugezogene betrachtet. „Die Bürüken sind zwar Kurden“, fährt Murat fort, „aber kein Bürüke unterstützt die PKK. Denn die erkennen Gott nicht an, sie sind gegen die Stammestraditionen und gegen Privateigentum.“ Ob es denn in der Schule kurdischen Unterricht gibt? „Nein“, antwortet Murat lächelnd, „das ist verboten.“ Die Familie nickt zustimmend mit dem Kopf.

Der Abschied von der Familie ist herzlich. Alle, auch die Frauen, lassen sich gern fotografieren. Mit religiösem „Fundamentalismus“ moderner städtischer Prägung hat man hier, trotz allgegenwärtiger Religiosität, nichts zu tun. Die Frauen bewegen sich frei, das Haar von einem Kopftuch bedeckt; sie verrichten einen Großteil der Feldarbeit, schon aus wirtschaftlichen Gründen können die Männer es sich nicht leisten, sie „unter Verschluß“ zu halten.

Susanes...

Das kleine Dorf am nördlichen Stadtrand von Van wird auch von Bürüken bewohnt. Der Taxifahrer Zeki stammt aus dem Dorf und kann mich als unverdächtigen Freund vorstellen; gerade heute sind die türkischen Zeitungen — auf eine kurdenfreundliche Bemerkung des deutschen Außenministers hin — voll von Berichten über angebliche deutsche Touristen, die als Spione für kurdische und armenische Terrororganisationen Südostanatolien überschwemmen.

Das Dorf liegt am Fuß eines Berges. Von Schlagloch zu Schlagloch quält sich das Taxi bis zur Dorfmitte, wo drei Frauen in bunter Tracht ihren Abwasch erledigen. Sie werfen sich schwarze Tücher über den Kopf und ergreifen die Flucht.

„Willkommen — Gott beschütze dich, Zeki, und auch deinen Freund!“ Wild mit seinem Krückstock fuchtelnd, kommt ein zahnloser Alter über den Platz. „Er interessiert sich für dieses Dorf, dein Freund? Was will er denn wissen? Die Geschichte des Dorfes? Ja — die ist schnell erzählt. Mein Vater, mein Großvater, die kamen nach dem ersten Krieg hierher. Da wohnten hier noch Ungläubige, Armenier. Mein Großvater und seine Männer haben sie allein verjagt — ohne die Hilfe des türkischen Militärs! Ja, das war mein Großvater. Er hat viele 1.000 Schafe mitgebracht und viele dazubekommen. Er war reich damals! Heute hat das ganze Dorf noch 3.000 Schafe, und wer kümmert sich um sie?“

Auf der Rückfahrt nach Van überrascht Zeki. Er hatte sich als Türke ausgegeben; warum kommt er aus einem kurdischen Dorf? „Kurde — Türke“, macht er eine wegwerfende Handbewegung, „die Sache wird zu wichtig genommen. Denn was bedeutet es, Kurde zu sein? Die Kurden sind rückständig, sie haben 10, 15 Kinder, die zerlumpt auf der Straße herumlaufen. Sie denken vorher nicht nach, sonst würden sie zum Arzt gehen. Das ist doch einfach. Ich habe drei Kinder, mehr kann man sich heute nicht mehr leisten. Ich jedenfalls bin kein Kurde mehr, sondern Türke.“

Varto...

...eine Kleinstadt (12.000 Einwohner), nördlich von Mus. Hier beginnt nach Westen hin das Siedlungsgebiet der Aleviten, der nach ihrer Selbsteinschätzung mit 10 bis 15 Millionen Angehörigen größten religiösen Minderheit der Türkei. Die Aleviten sind eine schiitische islamische Richtung, die allerdings mit dem Schiitentum der Islamischen Republik Iran wenig zu tun hat. Sie praktizieren eine volkstümliche, unorthodoxe Form des Islam, in der die Verehrung Alis, des Schwiegersohns des Propheten Muhammad, und der Naturgewalten wie Wasser, Feuer, Sonne eine wichtige Rolle spielt. Den Moscheebesuch, ja das tägliche Gebet überhaupt, lehnen sie ab. Heutzutage haben viele Aleviten, vor allem in den Städten, ihre religiösen Traditionen weitgehend aufgegeben. Für sie ist Alevismus gleichbedeutend geworden mit einer säkularen, tief humanistisch geprägten Geisteshaltung, die sie von der orthodox-sunnitischen Umgebung deutlich unterscheidet. Die Aleviten zwischen Varto und Erzincan sprechen Zazaki, eine iranische Sprache, die mit dem Kurdischen verwandt ist.

„Hello, mister? Where you come from?“ Der Tourist ist in Varto ein Monatsereignis. Sogleich fallen im Ortsbild die Mädchen auf, von denen viele Bluejeans tragen. Einigen verleiht der halbdunkle Teint und das dunkle, volle Haar eine faszinierende Schönheit. Unverhülltes Frauenhaar — in der Osttürkei ein sicheres Zeichen für Alevismus.

Der Friedhof von Varto erzählt die Geschichte der Stadt. Streng zweigeteilt liegen links die Gräber der Aleviten, rechts die der Sunniten. Die alevitischen Gräber sind chaotisch verstreut, die Grabsteine bunt bemalt. Eine Schere, ein Laib Brot, ein Krug — Gegenstände, die den Beruf des Verstorbenen bezeichnen, zieren deren letzte Ruhestätte.

Auf den sunnitischen Grabsteinen nichts von alledem. Streng und einfach steht hier Stein an Stein. Koranverse wachen schwarz auf weiß über die Seele des Verstorbenen, dessen ewige Ruhe nicht durch bildliche Darstellungen beeinträchtigt wird. Am Rand des Friedhofs — eine Reihe umgestürzter, zerstörter Grabsteine, von Buschwerk überwachsen. „Das sind alevitische Gräber“, sagt Hasan, ein 40jähriger Berliner Kurde auf Heimatbesuch, „vor 50 Jahren, da haben die Sunniten den alevitischen Friedhof verwüstet. Sie haben uns gehaßt und viele von uns umgebracht. Denn in Dersim gab es damals einen alevitischen Volksaufstand.“

Palu...

...In dieser sunnitischen Kleinstadt östlich von Elazig scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Ein verschlafener Bahnhof, durch den Ausbau des Fernstraßennetzes zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Die Hauptstraße entlang: ein Teehaus am anderen, Männer sitzen auf winzigen geflochtenen Stühlen, schlürfen ihren Tee und beobachten mißtrauisch den Fremden, der soeben die Stadt betreten hat. „Eine Nacht? 800 Lira im voraus.“ Mürrisch mustert der Pensionswirt meinen Paß und das Lichtbild. Auf einen Wink springt sein zehnjähriger Sohn herbei, um meinen schweren Rucksack in den ersten Stock zu tragen. Es ist Abend; auf dem Flur stehen drei Pritschen, auf denen sich — für 1.000 Lira pro Nacht — Dorfbewohner aus der Umgebung in die schweren, unverwüstlichen Hoteldecken eingewickelt haben.

In der Teestube nebenan stößt der Besucher aus Deutschland auf größeres Interesse. „Kannst du mich mitnehmen in dein Land?“ fragt Halil erwartungsvoll. Eine Notlüge hilft aus der Situation. Wie kann man zehn-, zwanzigmal am Tag die gleiche Bitte abschlagen? Egal ob kurdisch oder Alevi: die wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit vereint alle Bewohner Ostanatoliens. Keine Industrie, keine Arbeit, keine Chance auf Aufstieg und Glück — wer Beine hat, zu gehen, der macht sich auf den Weg ins gelobte Europa. Die zentripetale Migration der armen Länder am Rand Europas hat längst auch das hinterste kurdische Dorf ergriffen. Istanbul ist weit, Deutschland ist nicht viel weiter, und dort winkt das Paradies: dort haben es 1,5 Millionen Türken zu Wohlstand und Ansehen gebracht.

In Palu kommt zur wirtschaftlichen Not die gesellschaftliche hinzu: „Von hier ist 1924 der religiöse Aufstand Scheich Sa'ids ausgegangen“, sagt Halil und senkt seine Stimme, „gegen die gottlose Türkische Republik, die gerade das Kalifat abgeschafft hatte. Auch heute noch ist Palu ein Bollwerk der Religiosität. Es ist nicht auszuhalten. Wer jung ist, hat die Alternativen: beten, herumlungern oder weggehen.“

Tunceli...

„Ne mutlu Türküm diyene“ — „Wie schön ist es, Türke zu sein!“ Wer sich der Stadt nähert, dem leuchten schon aus der Ferne diese Worte entgegen, die der türkische Staat in riesigen Lettern auf eine Bergwand über den Dächern Tuncelis gemalt hat. Mit 30.000 Einwohnern ist Tunceli, das bis 1938 den kurdischen Namen Dersim trug, die einzige rein alevitische Stadt dieser Größe. Am Ortseingang überquert der Bus den Munzur, einen Fluß, der den Aleviten heilig ist und von dem man sagt, daß er 1938 rot war vom Blut der 50.000 Aleviten, die sich gegen die türkische Zentralmacht erhoben hatten. In der Stadt gibt es zwei große Moscheen, zur Demonstration sunnitischer Herrschaft in die Mitte der Stadt geklotzt. Kein Bewohner hat sie jemals von innen gesehen, mehr zieht es die Tuncelilis in eine der über 20 Bierstuben der Stadt.

Hidir ist der erste religiöse Alevit, dem ich während der Reise begegne. Er zieht ein Bein nach. Um seinen Hals baumelt ein Amulett mit einem Bild Alis, des Schwiegersohns von Mohammed. Hidir hat eine feuchte Aussprache. Er bewegt die Arme fahrig, wenn er spricht. Gehetzt blickt er sich um, küßt sein Amulett, drückt es sich auf die Stirn. „Die Sunniten sagen, wir sind Ungläubige. Vielleicht haben sie recht. Wir glauben nicht an den Islam, den sie predigen. Wir sind ganz anders — wir sind frei. Und doch ist es nicht leicht, ein Alevi zu sein. Es ist unglaublich schwer, eine Prüfung. Deswegen werden so viele zu Atheisten.“

Industrie oder Gewerbe gibt es in Tunceli genausowenig wie in anderen ostanatolischen Städten. Und zur wirtschaftlichen Misere kommt hinzu, daß Tunceli in der ganzen Türkei als ein Nest von Atheisten, Kommunisten und Revolutionären berüchtigt ist. „Wenn in meinen Papieren steht, daß ich aus Tunceli bin“, sagt Hidir, „dann will mich kein Arbeitgeber. Kurde zu sein, ist schon schlimm genug, aber dann auch noch Alevit und aus Tunceli...“

Die Namen wurden geändert