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Bahnreisen gegen Obdachlosigkeit

■ Eine kleine Episode aus dem Leben eines Ehepaares, das vor drei Wochen die Wohnung verlor und seitdem kreuz und quer durch die Republik geschickt wird

Herrenberg/Berlin und zurück. Sie wollen verreisen? 3.000 Kilometer quer durch die Republik in drei Wochen? Kein Problem, werden Sie obdachlos! Bei Härtefällen läßt es unser Sozialstaat sich nicht nehmen, seinen bürokratischen Gelüsten freien Lauf zu lassen und wohnungslose Bürger auf große Fahrt zu schicken. Die Reisekosten werden selbstverständlich übernommen. Nur ein Dach über dem Kopf bekommen Sie so leider nicht.

Um diese Erfahrung wird seit dem 10. Januar das Ehepaar Wendt Tag für Tag ein bißchen reicher. An diesem denkwürdigen Tag begann für die beiden eine Odyssee, deren Ende noch nicht absehbar ist. Das Ehepaar Wendt, seinerzeit wohnhaft in Herrenberg bei Stuttgart, marschierte, nachdem ihnen die Wohnung gekündigt worden war, zielsicher zum dortigen Ordnungsamt auf der Suche nach einer Schlafstätte. Nein, sagte ihnen der freundliche Herr, sein Amt sei nicht zuständig, Herr und Frau Wendt seien doch gebürtige Berliner — dort müßten sie sich melden, die könnten ihnen sicher helfen. Die Fahrkarte würde man ihnen selbstredend und großzügig bezahlen. Und familiär, wie Kleinstädter nun einmal sind, ließ es sich der nette Herr vom Ordnungsamt auch nicht nehmen, die Wendts persönlich noch am selben Abend an den D-Zug zu geleiten — möglicherweise auch nur, um sicherzugehen, daß sie weg sind.

So begab es sich, daß die Wendts an einem Sonnabend früh in Berlin ankamen. Bekanntlich sind die Ämter dann geschlossen und das Ehepaar verbrachte ein gemütliches Wochenende zwischen Imbiß, Bahnhof und der Straße. Montags früh beeilten sie sich, um noch einen Platz im Übernachtungsheim in Neukölln zu bekommen. Nein, das täte ihm ja nun leid, sagte ihnen ein Mitarbeiter des dortigen Bezirksamtes, aber zuständig für derartige Fälle sei die Gemeinde, in der man polizeilich gemeldet ist — Herrenberg. Die Berliner Bahnhofsmission überreichte den beiden erneut eine Zugfahrkarte. In Herrenberg angekommen, wer ahnt es nicht, freute man sich nicht besonders über die Rückkehr der Vertriebenen, und man fühlte sich nach wie vor nicht zuständig. Überhaupt, ein Übernachtungsheim gäbe es sowieso nicht in der Gemeinde. Wenn sie unbedingt wollten, könnten die Wendts ja in der Asylbewerberunterkunft nächtigen — aber nur für eine Nacht und falls keine Asylbewerber mehr kommen.

Schönen Dank. Die Wendts reisten daraufhin auf eigene Faust nach Stuttgart, fanden dort für zwei Nächte einen Platz im Wohncontainer und fuhren weiter nach Berlin — denn irgendwo müsse man ihnen ja schließlich helfen können. Hier angekommen, schilderten sie einem (anderen) Mitarbeiter des Bezirksamtes Neukölln erneut ihre Lage. Der erbarmte sich ihrer und verschaffte ihnen einen Platz im Übernachtungsheim an der Franklinstraße. Dann begannen die Nachforschungen bei der Polizei. Wer oder Was ist das Ehepaar Wendt und was haben sie hier zu suchen? Wie gesagt, beide sind gebürtige Berliner. Die Erkundigungen ergaben, vermutlich sehr zur Freude der Neuköllner, eine neue Zuständigkeit. Das Bezirksamt Kreuzberg soll es diesmal sein. »Dort haben Sie ja schließlich mal gewohnt. Da müssen sie sich melden.«

Das war am vergangenen Freitag. Nun sind Ämter ja, wie erwähnt und im übrigen auch bekannt, am Wochenende geschlossen. Das Ehepaar Wendt verbringt derweil ein weiteres gemütliches Wochenende im Übernachtungsheim. Und wenn Sie am Montag morgen in aller Ruhe und in der eigenen Wohnung diese Zeilen lesen, sitzen die beiden schon wieder im Bezirksamt — hoffentlich ohne Zugfahrkarte nach Herrenberg. jgo

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