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Umgekehrter Historikerstreit?

Entgegnung auf Eberhard Jäckels These, Nationalsozialismus und Stalinismus seien zwar vergleichbar, aber in keiner Weise gleichzusetzen  ■ VON HANS CHRISTOPH BUCH

Auf einer Podiumsdiskussion in Amherst, Massachusetts, überraschte mich der russische Dichter Josef Brodsky mit der Frage, wo ich lieber ermordet worden wäre: in Auschwitz oder im Gulag? Er selbst, fügte Brodsky hinzu, hätte den schnellen Tod in einem deutschen KZ dem langsamen Dahinsiechen in einem sowjetischen Straflager vorgezogen.

Der Literaturnobelpreisträger Brodsky ist ein unverdächtiger Zeuge. Er ist jüdischer Herkunft — ein Teil seiner Familie fiel dem Terror der SS-Einsatzgruppen zum Opfer —, wurde in der Sowjetunion zu Zwangsarbeit und Verbannung verurteilt, bevor er 1972 nach New York ausreisen durfte, wo er seither lebt. In seiner Rede zur Entgegennahme des Nobelpreises hat er Stalin, im Vergleich zu Hitler, als das größere Übel bezeichnet, weil der georgische Diktator länger geherrscht und mehr Menschenleben auf dem Gewissen habe; Schätzungen sowjetischer Historiker zufolge 20 bis 40 Millionen. Als die von mir übersetzte Version von Brodskys Rede in einer deutschen Wochenzeitung erschien, ließ der zuständige Redakteur diesen Satz weg, weil er ihn als anstößig empfand. Die Auslassung ist symptomatisch: Der Vergleich zwischen Hitler und Stalin, für russische Intellektuelle fast schon eine Selbstverständlichkeit, ist in der Bundesrepublik nicht erst seit der sogenannten Historikerdebatte tabu. Wer trotzdem, wie Ernst Nolte, auf dem Vergleich beharrte, geriet in den Verdacht, die Deutschen von ihrer Verantwortung für den Völkermord an den Juden freisprechen zu wollen. Demgegenüber hat der Historiker Eberhard Jäckel kürzlich im 'Spiegel‘ klargestellt, daß vergleichen nicht gleichsetzen bedeutet. Es handelt sich vielmehr um eine logische Operation, die dem Feststellen der Differenz, mithin der Wahrheitsfindung dient.

Die im Zuge der Stasi-Enthüllungen aufgekommene Gleichsetzung des DDR-Regimes mit dem NS-Staat weist Eberhard Jäckel aus guten Gründen zurück. Es wäre in der Tat abwegig, die Toten an der innerdeutschen Grenze und die Opfer der DDR-Justiz aufrechnen zu wollen gegen die Toten des von Hitler entfesselten Weltkriegs und die Opfer des Holocausts. Bis hierher kann ich Eberhard Jäckels Gedankengang folgen, weiter nicht. Der Vergleich, den er selbst für zulässig erklärt, aber im gleichen Atemzug wieder verwirft, ist nämlich nicht der zwischen Nazizeit und DDR-Vergangenheit, sondern zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus. Man braucht kein Historiker zu sein, um die ins Auge springenden Parallelen zu sehen, auf die Jäckel selbst hinweist, wenn er schreibt: „Gewiß auch haben die beiden Bewegungen sich gegenseitig bedingt.“

Parallelen von Nazismus und Stalinismus

Die Kampflieder und Parolen der Nazis waren nach kommunistischen Mustern kopiert. Beide Parteien beriefen sich zu Unrecht auf die Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung. Dem Satz, daß souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt, und daß eine Kompanie Soldaten genügt, um jedes Parlament aufzulösen, hätten beide zugestimmt. In beiden Systemen waren, zusammen mit der Gewaltenteilung des Staates, die Menschen- und Bürgerrechte suspendiert. Zur Verfolgung seiner eigenen Parteigenossen (Radek, Bucharin, Kamenew, Sinowjew u.a.) wurde Stalin vermutlich durch den Röhm-Putsch angeregt, so wie sich der Blutrichter der Nazis, Roland Freisler, von Stalins Chefankläger in den Moskauer Prozessen zu seinen geifernden Plädoyers inspirieren ließ: „Die tollwütigen Hunde müssen erschossen werden!“ Der Autor dieses Satzes, Andrej Wyschinksi, hat später als Außenminister der UdSSR die Charta der Vereinten Nationen unterschrieben; und Freislers Adlatus am NS-Volksgericht, Ernst Melsheimer, avancierte nach dem Krieg zum stellvertretenden Generalstaatsanwalt der DDR.

Hitler und Stalin machten aus ihrer Bewunderung füreinander nie einen Hehl; ihr zeitweiliges Bündnis war kein Betriebsunfall der Geschichte, sondern Ausdruck ihrer gegen die bürgerlichen Demokratien des Westens gerichteten Politik. Beide haßten Kosmopolitismus und Dekadenz — ein paranoides Feindbild, das deutlich antisemitische Züge trägt. 1937, auf dem Höhepunkt seines Terrors, hat Stalin, im Gespräch mit Lion Feuchtwanger, Judas als Prototyp des Verräters bezeichnet; die Opfer der Moskauer Prozesse waren überwiegend Juden; und noch Anfang der fünfziger Jahre wurden auf sein Geheiß zahlreiche jüdische Dichter und jüdische Ärzte ermordet.

Zwar ist und bleibt die von Hitler befohlene Vernichtung der europäischen Juden qualitativ schlimmer als alle anderen Massenmorde des 20. Jahrhunderts; aber die von Stalin angeordnete Liquidierung der Kulaken hat allein in der Ukraine sechs Millionen Tote gefordert, ein Bauernopfer, das dieser mit dem Slogan kommentierte: „Von Erfolgen schwindlig.“

Nach 1953 trat das von Stalin hinterlassene Herrschaftssystem nicht abrupt von der Bühne ab, wie Eberhard Jäckel behauptet — so als ob ein politisches Patent mit dem Tod seines Erfinders automatisch erlischt. Bekanntlich ist das Gegenteil der Fall: Nicht nur die Lehre von Lenin, auch der Stalinismus hat seinen an der Kremlmauer beigesetzten Schöpfer überlebt. Sein Erbe wirkt weiter, in abgemilderter und nationalstaatlich variierter Form, bei den europäischen Satelliten der UdSSR, einschließlich der DDR, und hat auch anderswo eifrige Adepten gefunden, in China und Nordkorea zum Beispiel, wo Stalins Vermächtnis bis heute in Ehren gehalten wird. Selbst die von Chruschtschow eingeleitete Entstalinisierung vollzog sich, nach einem Wort von Georg Lukacs, mit den Methoden des Stalinismus, d.h. nicht durch demokratische Diskussion von unten, sondern durch bürokratische Weisungen von oben: Den Toten des Gulag wurde gnädig bescheinigt, daß sie ungesetzlicher Repression zum Opfer gefallen seien — bis heute wurde keiner der Täter vor Gericht gestellt.

Der Angelpunkt von Eberhard Jäckels Argumentation ist eine Ablehnung der Totalitarismustheorie, die er rückblickend so charakterisiert: „Einen Schlußstrich ziehen, lautete die Devise der fünfziger Jahre. Intellektuelle waren wie immer dienstbar. Nur wenige widerspachen dem herrschenden Geschichtsbild. Die meisten lieferten lieber die Beweise. Das Ergebnis war die Totalitarismustheorie: Die beiden Diktaturen waren gleich.“ Das ist nachweislich falsch. Der Totalitarismusbegriff beruht nicht auf einer undifferenzierten Gleichsetzung von linker und rechter Diktatur, und seine Urheberin, die Philosophin Hannah Arendt, hatte anderes im Sinn, als die Deutschen von ihrer moralischen Verantwortung freizusprechen. Schließlich war sie selbst ein Opfer nationalsozialistischer Judenverfolgung und hatte die von ihrem Lehrer Martin Heidegger mit inszenierte Austreibung des jüdischen Geistes aus deutschen Universitäten hautnah erlebt. Hannah Arendts Totalitarismustheorie war ein Versuch, aus den historischen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts die richtigen Konsequenzen zu ziehen, anstatt die von Stalin befohlenen Massenmorde zu leugnen oder gar zu rechtfertigen unter Hinweis auf den Völkermord Hitlers, wie dies unter linken Intellektuellen lange Zeit üblich war. Der von der Sowjetunion und später der DDR verordnete Antifaschismus basierte auf einer Geschichtslegende, die das Leiden des jüdischen Volkes aussparte oder herunterspielte, den kommunistischen Widerstand glorifizierte und die Mitverantwortung der Komintern an der Machtergreifung der Nazis einfach unterschlug — vom vermeintlichen Sozialfaschismus der SPD bis zum Hitler-Stalin-Pakt.

Auch Eberhard Jäckels Hinweis auf das im Stalinismus angeblich aufgehobene, emanzipatorische Erbe des Marxismus, das der primitiven Rassenideolgie der Nazis haushoch überlegen gewesen sei, überzeugt mich nicht. Abgesehen davon, daß beide Diktaturen ihre Unmenschlichkeit mit humanitären Phrasen tarnten — so besehen, waren auch die Nazis „Idealisten“ —, sind sie in ihrem geistigen Umfeld gar nicht so weit voneinander entfernt. Schon in der Evolutionstheorie des späten Engels und im Sozialdarwinismus von Ernst Haeckel und Houston Stewart Chamberlain, auf den Hitler sich gern berief, war die marxistische Lehre vom Klassenkampf mit Darwins „survival of the fittest“ eine unauflösliche Verbindung eingegangen. Schriftsteller des Naturalismus wie Gerhart Hauptmann und Knut Hamsun, die sich von überzeugten Sozialisten zu Sympathisanten der Nazis wandelten, liefern hierfür den Beweis. Schließlich erhob Stalin, parallel zu seinen antisemitischen Kampagnen der späten vierziger Jahre, die pseudowissenschaftliche Vererbungslehre des Biologen Lyssenko zur offiziellen Staatsdoktrin. Totalitäres Denken von rechts und links war nie durch eine Berliner Mauer voneinander getrennt. Der zynische Satz: „Der Mett heiligt die Zwickel“, liegt beiden Tyrannen zugrunde. Beide waren bereit, die gegenwärtige Generation dem Glück der Zukunft zu opfern. Deshalb geht es nicht an, die menschheitsbeglückende Utopie des einen Systems auszuspielen gegen die menschenverachtende Realität des anderen, wie Eberhard Jäckel dies tut.

Kritik des sozialliberalen Geschichtsbildes

Das Geschichtsbild, das in seinem 'Spiegel‘-Essay zum Ausdruck kommt, ist, ähnlich wie die von Jäckel kritisierte Totalitarismustheorie, selbst historisch bedingt. Ich möchte es sozialliberal nennen. Die Sternstunde der auf den Antikommunismus der fünfziger Jahre folgenden Entspannungspolitik war die Unterzeichnung der Ostverträge und der Viermächtevereinbarung über Berlin. Das war gut und richtig. Die Grenzen der Gesprächsbereitschaft aber wurden sichtbar Anfang der achtziger Jahre, als Bonner Politiker aller Parteien (einschlielich der Konservativen und der Grünen) sich weigerten, mit der osteuropäischen Opposition zu sprechen (Solidarność, Charta 77, Friedensbewegung in der DDR), und statt dessen den Dialog pflegten mit Machthabern, denen jede Legitimation abhanden gekommen war. Die Dissidenten hatten keine Lobby im Bundestag. Tiefpunkt dieser Entwicklung war die von der SPD mehrfach und ohne Not erklärte Bereitschaft, die Erfassungsstelle Salzgitter zu schließen und von der DDR begangene Menschenrechtsverletzungen, denen auch Sozialdemokraten zum Opfer gefallen waren, aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Ich weiß, wovon ich spreche, denn als Vorsitzender des Westberliner Schriftstellerverbandes habe ich vergeblich gegen diese Appeasementpolitik protestiert. Mit einem solchen Geschichtsbild, wie es auch Eberhard Jäckels 'Spiegel‘- Essay zugrundeliegt, war und ist es nicht möglich, den ostdeutschen Polizeistaat konsequent zu kritisieren, weil das Böse, aufgrund einer eingebauten Wahrnehmungshemmung, nur rechts geortet werden kann. Als Ronald Reagan vom „Reich des Bösen“ sprach und den Abriß der Berliner Mauer verlangte, wurde er in der Bundesrepublik ausgelacht, obwohl seine Vorausschau sich als realistischer erwies als die der Bonner Realpolitiker. Seitdem eröffneten sich täglich neue, schwindelerregende Einblicke in die Abgründe des Stasi- Labyrinths, neben denen Eberhard Jäckels Behauptung: „Auch in Honeckers Staat wurden gewisse menschliche Werte nicht nur verbal beschworen, sondern auch befolgt“, wie Hohn klingen.

Natürlich war die DDR nicht das Nazireich, und gemessen an dem mit nichts vergleichbaren Grauen der Gaskammern von Auschwitz erscheint Ulbrichts Unrechtsstaat als „quantité négligeable“. Aber diese Tatsache darf nicht dazu führen, die Verbrechen des real existierenden Stalinsimus zu relativieren oder zu bagatellisieren bis zur Unkenntlichkeit, sonst wird eine umgekehrte Historikerdebatte daraus, und damit wäre niemandem gedient.

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