: Die Akten lassen Leipzig kalt
In Leipzig verläuft die Stasi-Aufklärung ohne Aufregung — das Betroffenheitsgeschrei wird den Westmedien überlassen. Viele Ex-Oppositionelle haben noch gar keinen Antrag auf Akteneinsicht gestellt: „Erst sind die wirklichen Opfer dran“ ■ VON NANA BRINK
Leipzig, im Januar. Spät abends im „Beyerhaus“, einer der wenigen Szene-Kneipen in der Leipziger City, wo das Bier noch nicht fünf Mark kostet und die Fettbemme (auch Schmalzstulle genannt) für 1,50 Mark zu haben ist: Neben dem Billardtisch hocken fünf Studenten, palavern zwischen dem Spiel über den letzten Biermann-Text im 'Spiegel‘. Man pflegt intellektuellen Zynismus und ein bißchen den unterschwelligen Kummer über die verlorene Unschuld. Natürlich war Anderson ein Held, wenn es auch keiner der ehemaligen Philosophie-Studenten zugibt. Aber war er auch ein „Arschloch“? Ganz plötzlich knallt Joachim K. das Queue auf die Bande und schneidet seinem Münchner Freund das Wort ab, als jener mit unverhohlenem Funkeln in den Augen in K.s Freundeskreis potentielle IMs ausmachen will. „Natürlich habe ich da jemand in Verdacht. Aber ich werde diese Seiten über unsere Theatergruppe nicht lesen, damit du Bescheid weißt. Überhaupt lasse ich mir die Debatte nicht aufzwingen, schon erst recht nicht von euch aus dem Westen. Wer weiß, vielleicht gibt's ja gar keine Akte über mich. War ich Bohley?“
Joachim blitzt seinen Freund an: „Ihr meint wohl, alle würden sich auf die Akten stürzen. Stimmt nicht. Jetzt plötzlich sollen wir alle Opfer sein, die mal am Stammtisch 'ne FDJ-Fahne zerschnipselt haben.“ Prompt kommt der Vorwurf: „Interessiert es dich nicht? Willste es nicht wissen? Verstehe ich nicht. Das riecht doch nach Verdrängung.“ — Eine klassische Diskussion? Klassisch zumindest in der Standortfrage. Und jener wird eben noch vom Geburtsort bestimmt.
Allen Schlagzeilen und Tribunal- Gelüsten von Schorlemmer, Thierse und Gauck zum Trotz: Das Thema Stasi-Akten bestimmt nicht jedes Gespräch — zumindest nicht in Leipzig oder Schwerin. Die Aktenlage wird exklusiv verhandelt — und vor allem: Sie wird in der Westpresse verhandelt. Eine Handvoll prominenter Bürgerrechtler schlägt die Ordner auf und schreit, denunziert, verteidigt, sinkt zusammen. Die jeweilige Reaktion kann man dann im Schlagabtausch zwischen 'Spiegel‘ und 'Zeit‘ lesen. Alle anderen Medien, je nach Provenienz mit unterschiedlichem Erfolg, reißen sich um die Promis und zwingen ihnen Kommentare oder Betroffenheitsberichte ab.
„Interessiert es euch nicht?“
Natürlich wundert es nicht, daß am wirklich gut sortierten Kiosk am Leipziger Hauptbahnhof allein die versammelte West-Presse mit den neuesten Enthüllungsgeschichten konkurriert. Kann die 'Leipziger Volkszeitung‘, immerhin zu 50 Prozent dem Springer-Konzern zugehörig und alleinige Tageszeitung in der Pleiße-Metropole, nicht mal einen anständigen Scheck ausfüllen für einen hiesigen Bürgerrechtler? Sie waren doch weit gesät in der Stadt der historischen Montagsdemonstrationen. Wollen sie nicht reden über ihre Biographie zwischen den Aktendeckeln, über die Entdeckungen, die verhinderten Berufschancen, die Wanzen unterm Bett? Wollen sie alles für sich behalten und uns ohne Schlagzeilen sterben lassen?
Am 2. Januar waren in der Leipziger Außenstelle der Gauck-Behörde alle Antragsformulare zur Einsicht in die Stasi-Akten vergriffen. 7.000 hatte man in den ersten 24 Stunden verteilt. 30.000 neue Formulare sollen in den nächsten Tagen nachkommen, „damit kommen wir erst mal aus für unsere 500.000 Einwohner“, sagt Regina Schild, die Leiterin der Leipziger Dependance. 6.000 besonders ungeduldige Leipziger haben ihren Antrag bereits wieder zurückgeschickt. Mitte Februar können die ersten ihre persönliche Akte einsehen — wenn die Baustelle beim Sonderbeauftragten, der in den Räumen der Staatssicherheit am Runden Eck logiert, beseitigt ist, wenn die Tische endlich da sind, wenn die Kartons mit den Akten ausgepackt sind und wenn grünes Licht aus Berlin von der Zentrale kommt. Soweit die Statistik. „Es brennt mir nicht auf den Nägel“, sagt Joachim K., ehemals Bürgerbewegter und Montagsdemonstrant der ersten Stunde, „eigentlich ist doch schon alles klar: Das einzige, was man noch gut finden kann, ist doch der grüne Pfeil. Der DDR-Bürger als Rechtsabbieger, das ist die Realität. Ansonsten wundert mich nichts mehr, wenn ich die Zeitung aufschlage. Ehrlich — das Maß ist voll, irgendwann ist die Empörungsschwelle überschritten, dann nickst du nur noch.“ Empfindlich reagiert auch Jochen Läßig auf das „blauäugige und oberflächige“ Nachbohren seiner West-Kollegen. „Das ist wieder mal typisch westliche Sensationshascherei.“ Der Fraktionsvorsitzende von Bündnis90/ Grüne im Leipziger Stadtparlament und einer der Mitbegründer des Neuen Forums kneift unwillig den Mund zusammen. Was ihn stört — auch bei seinen eigenen Leuten — ist das „positive Denken“: „Es ist unglaublich, was wir erreicht haben: Plötzlich kann ein Volk Einsicht in die Unterlagen eines Geheimdienstes nehmen. Einmalig in der Geschichte. Und einmalig ist auch der Akt der Selbstbestimmung. Also, ich bestimme, wann und wie ich meine Akten lese und niemand anderes.“ Dann fährt der „konservative Grüne“ barsch in die ungeduldige Frage, ob es ihm denn nicht auf den Nägeln brenne zu erfahren, was jene IMs philisterhaft recherchierten: „Natürlich, welche Frage. Ich habe da keine Scheu vor unliebsamen Entdeckungen. Aber schließlich leben wir ja nicht erst seit dem 1. Januar mit dem Gedanken an Verrat und Selbsttäuschung. Von einigen weiß ich es doch längst, daß sie für die Firma gearbeitet haben.“ Überdies habe er schon einige Akten einsehen können, damals im Frühjahr 1990, nach der Besetzung der Stasi-Zentrale, als das Bürgerkomitee vielen Aktiven einen ersten Einblick in das sichergestellte Material anbot. Nein, jetzt habe er seinen Antrag noch nicht ausgefüllt, überrascht der Ex-Theologie-Student seine Besucher. „Aus Zeitmangel.“
Anderes ist wichtiger
„Schon seit einiger Zeit beobachte ich, wie sich unsere Nachbarin verhält. Früher haben wir immer im Flur geplaudert. Sie war Parteisekretärin, eine Hundertprozentige. Sie wußte, daß wir anders dachten. Aber jetzt geht sie auf Abstand. Was weiß ich, ja, vielleicht war sie IM.“ Ilona S. Lacht sarkastisch. Die ehemalige Biologie- und Sportlehrerin ist seit einiger Zeit im Komitee des Leipziger Oberschulamtes, das die Vorschläge für die Lehrer-Entlassungen vorbereitet. „Ich habe nicht dieses Stasi-Syndrom, daß ich überall und ständig mich verfolgt gefühlt habe. Nun gut, sie haben mich auch nicht kaputtgespielt. Wenn ich im Knast gesessen hätte, würde ich wahrscheinlich anders denken. Was mich interessiert, ist, welche Karriereeinbußen ich hinnehmen mußte, dadurch, daß ich nicht in der Partei war und aus der Gewerkschaft ausgetreten bin. Da, glaube ich, mache ich noch einige Entdeckungen.“ Ilona S. Packt einen Stapel alter Staatskundebücher auf den Tisch. Dies sei mindestens ebensoschlimm, und sie könne es nicht ertragen, viele dieser Lehrer, die die Errungenschaften des Sozialismus vollmundig predigten, immer noch vor der Tafel zu sehen. Der Besuch eines ehemaligen Kollegen, der plötzlich in der Tür stand und ihr bei einer Tasse Kaffee gestand, IM gewesen zu sein, habe sie nicht sonderlich beeindruckt. „Es war ein erbärmlicher Auftritt, aber immerhin, ich habe es mir angehört. Großartige Emotionen hatte ich nicht. Er tat mir leid.“ Angst, daß ihr Freundeskreis an den Verdächtigungen und Enthüllungen zerbricht, hat sie nicht. Man habe doch schon früher genau hingehört und gewußt, wenngleich es keine Versicherung gebe.
Ilona S. hat ihren Antrag auf Akteneinsicht noch nicht ausgefüllt. Zeit und mehr Ruhe brauche sie dafür. Jetzt erst einmal seien auch die „wirklichen Opfer“ dran, die, deren Leben man zerstört hätte. „Ich bin so eingespannt beruflich, ich könnte gar nicht.“ Viele ihresgleichen aus dem Neuen Forum handeln so. „Aber das ist doch klar. Die meisten, die schon vor der Wende in irgendeiner Weise aktiv waren, die anders dachten und — wenn auch nur privat — offen redeten, die können jetzt vor Arbeit kaum aus den Augen sehen.“ Und sie zählt auf, aus ihrem Bekanntenkreis: Der einstige Lektor ist jetzt Pressesprecher im Rathaus, ehemalige Kollegen gründeten eine freie Schule, eine Freundin, als Leiterin eines Kulturhauses gefeuert, konnte endlich Journalistin werden...
Redet man noch über die Stasi? Wenn, dann verhalten. Man ergeht sich entweder in Sarkasmus wie Joachim und seine Freunde, denen sich der linke Horizont verschob, oder zeigt Selbstbewußtsein und moralischen Zeigefinger wie Jochen Läßig oder auch Ilona B. Das Thema rückt in den Hintergrund, je dicker die Schlagzeilen werden. Der Alltag ist ein anderer. Das öffentliche Engagement ist mit dem Vollzug des Stasi- Akten-Gesetzes erschöpft. Einige zaghafte Stimmen aus den ehemals kirchenoppositionellen Kreisen rufen nach einem „Tribunal“ für Leipzig. Aber wer soll es ausrichten? Die Stadt? Vergangenheitsbewältigung staatlich verordnet, vielleicht sogar noch im Rathaus? Wer säße auf dem Richterstuhl unterm Stadtwappen? Die Pfarrer der Nicolaikirche, die Wortführer der Montagsdemonstrationen, der Oberbürgermeister und Ex-Hannoveraner, oder sollte man Schorlemmer einfliegen oder den Helden und Ehrenbürger Masur vom Dirigentenpult der New Yorker Philharmoniker abkommandieren? „...Und unten säße dann das Volk und glotzt auf die Gelahrten, die ihnen da wieder mal das Denken abnehmen!“ spottet ein Kabarettist von den „academixern“ in einem Pamphlet über die „Denkfäule“ seiner Leipziger.
„Die Enthüllungskampagne rollt doch bereits. In einem Jahr“, so pflegt Jochen Läßig seinen Optimismus, „sind fast alle IMs enttarnt. Dann haben auch wir alle unsere Akten gelesen.“ Aber auch erst dann könne man wirklich sinnvoll beispielsweise eine Dokumentation über die Unterwanderung der Leipziger Kirchen- und Oppositionskreise erarbeiten, so wie sie ehemalige Mitarbeiter des Bürgerkomitees, die zum Teil auch jetzt bei der Gauck-Behörde beschäftigt sind, bereits planen.
„Wir werden da auf keinen Nenner kommen“, sagt Joachim K. zu seinem Freund. Für ein paar Minuten unterbrechen sie das Billardspiel. Fünf Minuten Sprachlosigkeit.
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