: TABAK, SCHNAPS UND SEX SIND TABU Von Ralf Sotscheck
Ich gehöre zu den Auserwählten— und das schon zum dritten Mal in diesem Jahr. Mich erwarten Reisen in ferne Länder, ein aufregendes Überraschungsgeschenk, ein wertvoller Kugelschreiber. Ich muß nur durch meine Unterschrift dem Klub der 28 Millionen Menschen beitreten, die sich Monat für Monat 'Das Beste aus Reader's Digest‘ reinziehen. Selbst das Vortäuschen des eigenen Todes („Empfänger verstorben“) ist zwecklos, der Strom der Reklamesendungen ist offenbar unendlich.
Doch die Werbemanager sind nicht nur hartnäckig, sondern auch höchst erfolgreich: Vor genau 70 Jahren erschien während der Prohibition in einer illegalen New Yorker Kellerkneipe die erste Nummer, heute gibt es weltweit 41 verschiedene Ausgaben in 17 Sprachen. Nach der USA-Ausgabe sind die deutsche und die britische Version die auflagenstärksten. Nur die Programmzeitschrift 'Radio Times‘ verkauft mehr Exemplare in Großbritannien.
Während zu Beginn nur Nachdrucke aus anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden ('Das Beste‘), gibt es inzwischen zahlreiche Eigenbeiträge. Die britische Ausgabe machte im vergangenen Jahr Schlagzeilen, als der Erzbischof von Canterbury in einem Interview erklärte, die Behauptung, nur ein Mann könne Christus am Altar repräsentieren, sei Ketzerei. Da die überwältigende Mehrheit seiner Kollegen jedoch genau das behauptet, mußte sich der Bischof später entschuldigen. Das Ergebnis einer 'Digest‘-Umfrage, wonach für die Briten ein hohes Sparguthaben wichtiger als Sex sei, zog unweigerlich die Schlagzeilen in der Boulevardpresse nach sich: „Briten sparen lieber, statt zu bumsen.“
Ansonsten ist Sex jedoch völlig tabu. 'Reader's Digest‘ hält mit unverrückbarem Optimismus an traditionellen Familienwerten fest. Der Hauptsitz des Magazins — seit zwei Jahren eine Aktiengesellschaft im Besitz von Wohltätigkeitsvereinen— ist ausgerechnet Pleasantville (pleasant = angenehm), 65 Kilometer vom Sündenbabel New York entfernt. Die Leserschar rekrutiert sich vor allem aus der Mittelklasse mittleren Alters mit mittleren Ansichten. Und sie ist treu: Wer einmal unterschrieben hat, kommt nicht mehr davon los — drei Viertel der LeserInnen sind Abonnenten.
Das Blatt, dessen seit 70 Jahren unveränderte Titelseite fast so anregend wie ein Steuerbescheid ist, hat sich der „Information, Bildung, Unterhaltung und Inspiration“ verschrieben. Der letzte Punkt spielte schon immer eine bedeutende Rolle: Spezialität des Blattes sind Kampagnen jeder Art. DeWitt Wallace, der Gründer, lehnte von Anfang an Zigarettenwerbung in seiner Zeitschrift ab — und das zu einer Zeit, als Ärzte noch eine Entspannungszigarette vor dem Einschlafen empfahlen. Auch Alkoholreklame sucht man zumindest in der US-Ausgabe vergeblich. Und immer noch ist man von einem Antikommunismus beseelt, der deutlich an Hysterie grenzt.
Kein Wunder, daß Margaret Thatcher und Ronald Reagan die kleinformatigen Heftchen öffentlich zu ihrer Lieblingslektüre erkoren haben. Thatcher gab 'Reader's Digest‘ gar ein Exklusivinterview, kurz bevor sie aus der Downing Street hinausgeworfen wurde. Böse Zungen behaupten, Reagan habe die Witze für seine Reden aus der flachsinnigen Kolumne „Lachen ist die beste Medizin“ abgeschrieben. Noch bösere Zungen sagen, der ehemalige US- Präsident habe seine eigenen Witze regelmäßig zur Veröffentlichung eingesandt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen