: Wie demokratisch ist Deutschland wirklich?
■ betr.: "Aufruf für ein 'Tribunal'" (Mit dem Forum der Aufklärung beginnen!), taz vom 23.1.92
betr.: „Aufruf für ein ,Tribunal‘“ (Mit dem Forum der Aufklärung beginnen!), taz vom 23.1.92
Warum sträuben sich viele westdeutsche Politiker und die überwiegende Mehrheit der gesamtdeutschen Bevölkerung gegen eine Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit und die Offenlegung von Machtstrukturen? Es ist nicht erst seit der Wende mein Verdacht, daß die Bundesrepublik gar nicht so demokratisch ist, wie sie sich den Anschein gibt.
Macht hat zwei wesentliche Grundpfeiler: Unterdrückung und Korrumpierbarkeit des Individuums. Diese sich einander bedingenden Voraussetzungen sind es, die den einen Teil der Gesellschaft zu Unterdrückten und Benachteiligten machten und den anderen Teil zu Beherrschenden und Privilegierten. Kratzt man nun an dem demokratischen Lack und der sozialen Lasur des Staates, treten genau diese Säulen zutage. Es kann somit politisch gar nicht gewollt werden, daß ein Staatswesen sein Innerstes offenbart.
Wer aufmerksam die letzten 20 Jahre politischer und wirtschaftlicher Entwicklung der Bundesrepublik beobachtet hat, wird feststellen, daß die allgemeinen machtpolitischen Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten nicht unähnlich verlaufen sind. Verdrängung der Mitschuld am NS-Staat, kein gefestigtes Verhältnis zur Demokratie, zunehmende Gewissenlosigkeit in der Politik, Ämterpatronage, Lobbyismus der Wirtschaft, Schwarzgeld und Geldwäsche, Durchdringung des Staatswesens mit mafiosen Strukturen durch zunehmende Korruption und schmutziges Kapital. Die Folgen sind Belastung und Zerstörung der Umwelt und die Verelendung ganzer Völker. In der DDR haben eine Nomenklatura und ihr Machtapparat erbarmungslos die Natur ausgeplündert und zerstört, der gravierende Unterschied ist aber, daß sie in erster Linie ihre eigene Bevölkerung ausgebeutet und verarmt haben. Sie hat sich natürlich ohne Zweifel auch über den Welthandel an der Verarmung anderer Völker beteiligt, da sie sich aber abgeschottet hat und kein Kapital besaß, war sie auch für das organisierte Verbrechen unattraktiv. Trotzdem herrschten in der DDR die gleichen Regeln wie in der Bundesrepublik: mitmachen und schweigen für Macht und Privilegien oder sich widersetzen und Repressalien erleiden.
Ich höre schon den Aufschrei: „Bei uns doch nicht. Wir sind ein demokratischer Rechtsstaat!“ Frage: „Wieviel Demokratie ist denn geblieben?“ Es ist auch kein Geheimnis mehr, daß nicht Politiker und Parlament Gesetze machen, sondern die Lobbyisten der Wirtschaft, daß unsauberes Geld (wenn auch mehrmals gewaschen) unseren Wirtschaftskreislauf durchströmt. Selbst die unkritischsten Wirtschaftsbosse und verharmlosendsten Banker sind mittlerweile aufgeschreckt über das Ausmaß der Untergrundwirtschaft und die Auswirkungen auf Politik und Verwaltung.
[...] Diese beiden Komponenten: die Angst der Herrschenden (Politiker, Lobbyisten und andere) vor der Aufdeckung der Machtstrukturen und ihren Verflechtungen, welche zum Machtverlust führen könnten, und die Angst der Bevölkerung vor der Aufarbeitung eigener Schuld an Unterdrückung und Verelendung anderer Menschen, die Mitschuld an globaler Zerstörung durch ihr Wohlleben, sind es, die zur Verhinderung einer Aufarbeitung beitragen. Sie wollen nicht zugeben, daß auch ihre Entwicklungsgeschichte zur Disposition steht.
Meine Frage ist darum nicht nur, wie undemokratisch war die DDR, sondern wie demokratisch ist Deutschland wirklich? Renate Helling, Ost-Berlin
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