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Die neue Supermachtnostalgie

Boris Jelzin und George Bush haben Abrüstungsschritte und eine Ära von „Freundschaft und Partnerschaft“ verkündet. Aber die militärische Kontrolle der Welt durch zwei Supermächte ist vorbei  ■ VON ERHARD STÖLTING

Das Ende des realen Sozialismus und der Sowjetunion hatte ein paradoxes Ergebnis. An die Stelle eines Gleichgewichts des Schreckens trat der Schrecken gestörter Gleichgewichte. An die Stelle eines — bis dahin durch die beschleunigte Vernichtung aller Ressourcen gebremsten — wirtschaftlichen Niedergangs trat der ungebremste Absturz ins offene Elend. Die kurze Phase der Demokratisierung droht in neuen Diktaturen zu enden, während die hungrigen Bevölkerungen teils apathisch, teils fanatisiert bereit scheinen, irgendwelchen Rettern zu vertrauen.

Die Furcht vor kriegsbedingten Flüchtlingsströmen, vor fremder Hilfsbedürftigkeit, die sich derartigen „Rettern“ verdankt, treibt die Regierungen der nördlichen Industrieländer mit Recht um. Allen Saddams dieser Welt schließlich stellt der Zusammenbruch der Sowjetunion jene Rüstungsexperten zu Schleuderpreisen zur Verfügung, die dieses Land zu einer furchterregenden Supermacht hochgeforscht hatten: Noch immer gibt es, offiziellen Angaben zufolge, 100.000 sowjetische Spezialisten für Atomwaffen, von denen etwa 15.000 Geheimnisse wissen und zwischen zwei- bis dreitausend wirklich gefährlich sind. Das monatliche Durchschnittsgehalt der im Atomkomplex Beschäftigten soll von bisher 600 Rubel auf — für sowjetische Verhältnisse fürstliche— 12.000 Rubel angehoben werden, was etwa 177 DM entspricht.

Das alles ist Anlaß genug für den Versuch, dem Chaos durch internationale Einbindungen und Hilfen entgegenzusteuern. Die Armut der GUS-Staaten und Osteuropas ist nicht schlimmer als die von Tschad oder Bangladesch— aber gefährlicher. Verständlich, daß 47 Länder und sieben internationale Organisationen am 23. Januar in Washington beschlossen, den GUS-Staaten kurzfristig, mittelfristig und langfristig unter die Arme zu greifen. Und nicht umsonst mehren sich heute die Versuche, den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums durch neue internationale Bindungsmechanismen organisatorisch aufzufangen.

Da hierbei militärische und wirtschaftliche Erwägungen einander ergänzen, also nicht nur guter Wille als Triebkraft auftritt, könnten die nun geplanten Abrüstungsschritte tatsächlich zur Verfriedlichung der Welt beitragen. Daß wichtige Ereignisse ebenso öffentlich zelebriert werden wie nur scheinbar wichtige, sollte dabei nicht irritieren.

Natürlich gehörte das erste Treffen der 15 Chefs aller Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrates am 31.Januar zum Welt-Show-Theater. Rußland trat offiziell die Nachfolge der Sowjetunion unter den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates an, und der britische Premier John Major war Zeremonienmeister. Die abschließende Resolution des Sicherheitsrates gegen die Weiterverbreitung der Atomwaffen, für mehr Demokratie und für die Menschenrechte gehörte zu den eher kosmetisch gedachten öffentlichen Absichtserklärungen. Viele der eher dubiosen Mitglieder des Sicherheitsrates dachten sicherlich nicht an eine Selbstverpflichtung.

Immerhin kann nun die Einbindung der ehemaligen Sowjetrepubliken weitergehen. Ihre Aufnahme ins Plenum der UNO ist nur noch eine Formsache. Dabei erspart die einstige staatsrechtliche Fiktion, nach der die Sowjetunion ein Staatenbund war, dem hohen Hause die Aufnahme der Ukraine und Weißrußlands; die waren Stalins Wunsch entsprechend seit der Gründung stimmberechtigte UN-Mitglieder, um der numerischen Übermacht der Westmächte etwas entgegenzusetzen. Die Aufnahme in die UNO wird die am 30. Januar beschlossene Aufnahme von zehn GUS-Staaten in die Organisation der KSZE ergänzen, deren Gesamtzahl damit auf 48 stieg. Daß auch die fünf mittelasiatischen Staaten — Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Kirgistan und Kasachstan — dazugehören, verdeutlicht, welch großes Gebiet zu Sorgen Anlaß gibt.

Jelzin steckt in Gorbatschows Schuhen

Diese Einbindungen in internationale Mechanismen werden durch den jetzt in Gang gekommenen Abrüstungswettlauf ergänzt — auf den ersten Blick eine politische Anomalie. Hinter ihm stecken aber handfeste politische Interessen.

Wie einst Gorbatschow benötigt Jelzin außenpolitische Erfolge, um jenes strahlende Image zu reparieren, das seine früheren Verbündeten Chasbulatow und Ruzkoj tatkräftig zerstören. Daß die Wirtschaftsreformen keine raschen Erfolge bringen und die Verwaltung des Landes nicht in Ordnung kommt, schadet Jelzin bei der Bevölkerung. Eine spektakuläre Abrüstung hingegen entlastet die ohnehin leere Staatskasse und kann ausländische Mächte dazu veranlassen, Wirtschaftshilfe zu versprechen.

Aber auch der US-amerikanische Präsident steckt in innen- und wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten— und das am Beginn des Wahlkampfes. Eine „Friedensdividende“ könnte den amerikanischen Haushalt, dessen Defizite schon lange an der wirtschaftlichen Substanz des Landes nagen, ein wenig entlasten.

Am 29. Januar verkündete Bush, 50 Mrd. Dollar innerhalb von fünf Jahren einsparen zu wollen. Bei einem Budget in der Größenordnung von 285 Mrd. Dollar im Jahre 1992/93 ist das nicht wenig. Bush schlug die beiderseitige Vernichtung aller landgestützten Atomraketen mit Mehrfachsprengköpfen vor. Lasse sich Jelzin darauf ein, dann würden die USA ein Drittel ihrer seegestützten Atomraketen aus dem Verkehr ziehen; anstelle der 75 Tarnkappenbomber sollten nur zwanzig gebaut werden, die strategischen Bomber würden künftig überwiegend mit konventionellen Waffen bestückt; beendet würde die Produktion der mit bis zu 10 Sprengköpfen bestückten MX-Interkontinentalraketen und die der einköpfigen „Midgetman“-Raketen. Schließlich versprach Bush die Umrüstung eines „substantiellen Teils“ der strategischen Bomberflotte auf konventionelle Waffen.

Jelzin griff Bushs Fehdehandschuh auf und suchte den Amerikaner noch zu übertrumpfen. Er kündigte u.a. die Aufhebung der Alarmbereitschaft von 600 land- und seegestützten ballistischen Raketen mit insgesamt 1.250 Sprengköpfen an; 130 Silos für Interkontinentalraketen würden zerstört; 6 U-Boote verlören ihre Abschuß-Anlagen für Atomraketen; mehrere Entwicklungs- und Modernisierungsprogramme würden eingestellt, ebenso die Produktion der schweren Bomber TU-160 und TU-95 MS und die landgestützter Marschflugkörper großer Reichweite.

Ohne Respekt vor dem jahrelangen kostspieligen diplomatischen Feilschen um Vergleichsmaßstäbe, Grenzwerte und Verifikationsmechanismen machte Jelzin das erst im Sommer 1991 ausgehandelte START-Abkommen zur Makulatur. Während dieses Abkommen der Sowjetunion 7.160 und den USA 9.480 atomare Sprengköpfe zubilligte, sollen sich nun beide Seiten mit 2.000 bis 2.500 Sprengköpfen bescheiden. Selbst der ABM-Vertrag von 1972, der Präsident Reagan und seinem Nachfolger wegen des SDI-Programms so lästig geworden war, wurde nun hinfällig: Jelzin bot den Ausbau eines gemeinsamen Raketenabwehrprogramms an.

Die Abrüstungsspirale, die alle Nachkriegsmechanismen auf den Kopf zu stellen scheint, enthält allerdings auch gegenläufige Momente. Jelzin setzt zwar die Taktik Gorbatschows fort, mit dem Chaos im eigenen Lande und mit der Gefahr eines restaurativen Putsches zu drohen; und damit hat er zu Recht einigen Erfolg. Die gleiche Argumentation aber kann die Abrüstungsprozesse auch abbremsen, wie Jelzin anläßlich seines Besuches bei Major in London erfuhr.

Die britische Regierung will gerade jetzt ihre alternde atomare „Polaris“-U-Boot-Flotte durch das modernere „Trident“-System ersetzen und seine Atomsprengköpfe verdreifachen. Die britischen Bestände seien nur ein Bruchteil jener der Supermächte, sagte Verteidigungsminister Tom King. Er wies auf die unsichere Situation in Osteuropa hin und auf die Gefahren, die ein Militärputsch gegen Jelzin mit sich bringen könnte. Immerhin bot Major den ehemaligen Sowjetrepubliken Kredite über umgerechnet 680 Millionen DM an, mit denen sie britische Waren einkaufen sollen.

Auch China, das jetzt dem Atomwaffensperrvertrag beitreten will, wies alle Abrüstungszumutungen schroff zurück. An eine chinesische Abrüstung sei erst zu denken, wenn die bisher Großen das chinesische Niveau erreicht hätten. Aber nicht nur deshalb erscheint die Abschaffung der Massenvernichtungswaffen noch utopisch. Denn erstens haben die vielen Atomrambos dieser Welt gerade jetzt die Möglichkeit, Wissen, Technik und Grundstoffe zu kaufen; wenn sie einen Nerv für Abrüstung hätten, wäre es ein Wunder. Andererseits arbeiten nicht nur Not, sondern auch schiere Geldgier den Desperados aller Welt in die Hände, wie gerade in Deutschland immer wieder zu sehen ist.

Schließlich sind Prestigefragen offenbar ebenso blutiger Ernst wie alle anderen Albernheiten des politischen Hühnerhofs. Der Wunsch, ein größerer Gockel zu sein, setzt aller Vernunft Schranken. Selbst Jelzin ist davon nicht ganz frei: immerhin dringt er auf Parität. Rußland, das sich den Mantel der Sowjetunion übergeworfen hat, der ihm auch zukommt, soll als Supermacht geachtet werden. Erfreulich ist immerhin, daß substantielle Abrüstungsschritte trotzdem möglich sind.

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