: Alles kein Versehen
Luc Bondy inszeniert an der Berliner Schaubühne „Schlußchor“ von Botho Strauß ■ Von Sabine Seifert
Er steht im Dunkeln, tastet sich an Vorhängen vorbei, sucht einen Lichtschalter. Eine Türklinke kommt ihm entgegen. Er drückt sie und steht plötzlich im Hellen — wie die Frau, die er, nichtsahnend, unvorhergesehen, nackt im Badezimmer überrascht. Ein Versehen. Sie straft ihn, der sie „hüllenlos“ und damit alles gesehen hat, mit Nichtachtung. Der Mann schrumpft zusehends, je mehr er sich bemüht, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie übersieht ihn. Er ist einfach nicht, in ihren Augen ein Nichts . Er zieht die Pudelmütze über das Gesicht und schießt sich eine Kugel in den Kopf.
Sehen und Gesehenwerden: Ich bin, was ich sehe (im Spiegel), ich bin der, den du siehst, du bist, was ich sehe, wir sehen uns nie mehr wieder (wie jetzt), ich kann mich — allein — nicht sehen. Botho Strauß kann sich sehen lassen: Er konjugiert sich durch die Phänomenologie der Wahrnehmung. Ein Dichterphilosoph. Daß auch seine Dramen trotz der eleganten Sprache und des gepflegt-oberflächlichen Milieus philosophischen Tiefgang und Kurs genommen haben, beweist das superdicke Programmheft, das die Dramaturgie der Schaubühne zur Aufführung vom Schlußchor zusammengestellt hat (von Platon bis zur Chaostheorie). Davon kündet vor allem der darin enthaltene Teilabdruck aus Strauß' im kommenden Frühjahr erscheinendem Buch Beginnlosigkeit. Reflektionen über Fleck und Linie, aus dem ich kurz zitieren möchte: „Nicht ist erst der Anfang und dann der Gang der Minderung und des Vergessens. Anfangslos und immer ist der Grund, aus dem jeder entsteht, ein Ausriß davon das jeweilige Leben. Und dies ist voller Inschriften, voller Alles-Elemente, in jener besonderen Verteilung, die uns gerade einmal erträglich und dann wieder rein unerträglich ist, und die Die Zeit heißt.“
Die zeitgemäßen Versuchsanordnungen des Botho Strauß schlagen sich in seinen Stücken nieder; eine davon hieß Die Zeit und das Zimmer, auch sie wurde damals bei dem in Deutschland und Frankreich arbeitenden Regisseur Luc Bondy in Arbeit gegeben. Strauß reflektiert nicht nur Die Zeit, sondern Zeitgeschichte. Die kam ihm und seiner zeitlosen Beschäftigung, dem Nachdenken über die Zeit (es liegt am Phänomen selbst, daß diese Beschäftigung so angestrengt und absurd erscheint, denn Zeit vergeht eben und unterdessen) in die Quere: der Mauerfall im Spätherbst 89 und die Wiedervereinigung im darauffolgenden Jahr. Uraufgeführt wurde Schlußchor bereits im Februar 1991, Dieter Dorn führte hilflos Regie in einer monochrom-gelackten Inszenierung an den Münchener Kammerspielen. Luc Bondy macht es sehr viel besser, aber auch er und seine Schauspieler vermögen das Stück nicht zu retten.
Bondy hat den dreiaktigen Schlußchor — der Mittelteil ist die oben beschriebene Szene von Delia im Bade — umgebaut, Anfang und Ende miteinander verzahnt: Der Chor stimmt sein Lied an, baut sich auf für das Gruppenbild. Der Deutschland-Rufer, der alle drei Akte durcheilt, ist kein running gag, sondern das Bindeglied und die Präzisierung der alten Aristotelischen Dramenformel: Einheit von Ort und Zeit. Deutschland, genauer gesagt Berlin, in jener Nacht auf den 9.November 1989. Jeder Akt eine Momentaufnahme (feierliche Musik ertönt, das Licht verdunkelt sich), die jenen historischen Augenblick des Mauerdurchbruchs und der ersten Euphorie festhält.
MomentaufnahmeI: ein Betriebsausflug in Pose. Unentwegt und unbewegt betätigt der Fotograf (Otto Sander) den Auslöser seiner Kamera und fordert die posierende Meute zu philosophischem (aber herrlichem) Blödsinn heraus: „Ich sehe jetzt schon aus wie später.“ „Ich starre nicht, ich halte nur mein Aussehen fest.“ „Wir blicken jetzt auf uns zurück.“ Anspannen — auslösen — Bild(dunkel), die Bonmots sind im rhythmischen Gleichklang präzise plaziert. Der große historische Moment nähert sich, der Fotograf hat im falschen Augenblick abgedrückt. Das Bild läßt sich nicht festhalten, der Fotograf wird von der Meute zerfleischt. Der Anfang ist atemberaubend, komisch; ein genialer Einstieg und Einfall, zugegeben.
MomentaufnahmeII: Der Architekt (Otto Sander), der die Nackte im Bade sah, baut sich im Foyer ihrer Wohnung vor dem Spiegel auf; er sieht aus wie ein begossener Pudel, der um die richtigen Worte ringt („Ich stehe wie gelähmt vor dem Reichtum meines Deutschs“), aber außer einem kläglichen Wauwau nichts zustandebringt. Eine Salonkomödie entfaltet sich (wir sind bei feinen Leuten): Die Partygäste kommen und gehen und hinterlassen ihre verbalen Duftnoten. Belanglose Selbstbespiegelung, gehobenes Boulevardtheater.
MomentaufnahmeIII: eine Bar im gediegenen Stil der 20er Jahre: rote Wände, grüne Lederpolster. Der Fernseher läuft, irgendwann knallen die Sektkorken, als die ersten zwei DDRler eintrudeln, die immerhin den denkenswerten Satz sagen dürfen: „Wir haben nichts geglaubt, waren aber überzeugt, daß uns der Betrug vor Schlimmerem bewahrt.“ Unter den Gästen Anita von Schastorf (Jutta Lampe) mit ihrer Mutter, ein runtergekommenes Paar, das mit Streit und Tränen hausieren geht und den ultrarechten Vater zum Widerstandskämpfer gegen Hitler stilisiert.
Anita ist ein altes Mädchen, verstört, innerlich zerfressen, voller Haß auf die Mutter und voll inzestuöser Liebe zu ihrem toten Vater. Eine Kunstfigur, mit deren Hilfe Strauß deutsche Vergangenheit und Gegenwart ineinander verwirkt und ineinanderwürgt, sozusagen einen mytholosatanischen Wunschpunsch bräut („Was tut man nicht alles, das Einstweh zu stillen!“ heißt es in Beginnlosigkeit). Starker Tobak ist das: Anita setzt an, den großen Adler(menschen) aus seinem Käfig zu befreien, flirtet mit ihm, legt sich ihm zu Füßen. Liebe ist Kampf und Krampf, sie erwürgt das Tier.
Jutta Lampe bringt die Rolle mit allem ihr möglichen Anstand über die Bühne. Aber auch Luc Bondy erweitert die Bandbreite der Regieeinfälle zu dieser Szene nur unmerklich. Wilfried Minks zeigte in seiner Düsseldorfer Inszenierung einen Adler im Flug auf der Leinwand, Gisela Stein durfte bei Dorn einen ausgestopften Bundesadler rupfen, und Luc Bondy läßt Flügelschlagen und das Schreien eines Raubvogels über Tonband einspielen, während die Bühne im Dunkeln liegt.
Bisher ist keinem Regisseur etwas Komisches dazu eingefallen. Wohl alles kein Versehen.
Botho Strauß: Schlußchor. Regie: Luc Bondy, Bühne: Erich Wonder. Mit Otta Sander, Jutta Lampe, Corinna Kirchhoff, Joana Maria Gorvin, Ernst Stötzner, Imogen Kogge, Dörte Lyssewski. Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin. Die nächsten Aufführungen: 9., 11., 12. und 16.Februar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen