Dresdener Wahlschwindel harrt eines Urteils

Im Wahlfälschungsprozeß wird heute der Richterspruch erwartet/ Der Mechanismus von Lüge, Unterdrückung und „einmütiger Zustimmung“ ist mit Verurteilung nicht zu fassen / Spitzen-Fälscher versuchten, sich reinzuwaschen  ■ Aus Dresden Detlef Krell

Welches Urteil der baden-würtembergische Richter Gert Halfar heute in Dresden auch fällen mag, der Wahlfälschungsprozeß gegen den ehemaligen Oberbürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer, und den Stadtparteisekretär Werner Moke wird damit noch nicht am Ende sein.

Sowohl Anklage als auch Verteidigung haben für den Fall, daß der Richterspruch nicht ihren Anträgen folgt, Revision angekündigt. Dabei ging es zu keiner Zeit nur um die beiden Angeklagten. Sie gestanden, Berghofer sofort und Moke bald darauf, die Dresdener Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 7.Mai 1989 entsprechend der „politischen Zielstellung“ der SED „verbessert“ zu haben.

Wahlen in der DDR waren eine Tragikomödie, gespielt mit exakt verteilten Rollen und in einer nur den Darstellern verständlichen Sprache, die Staatsanwalt Andreas Günthel treffend als „Chiffrierjargon“ bezeichnet hat. Deshalb lief die Vernehmung einstiger Mittelklasse- Funktionäre aus den Kreiswahlbüros über weite Strecken „zweisprachig“. Doch letztlich waren die stereotypen Redewendungen von ehemaligen „Ersten“ der SED-Stadtbezirksparteiorganisationen immer noch überzeugender als das Gebaren der Spitzenfälscher des ehemaligen Politbüros.

Die „Genossen vor Ort“ konnten sich noch sehr genau an die ihnen von der „Zentrale“ zugewiesene Rolle erinnern und an den Spagat, den sie zwischen eigenem Ver-Zweifeln, sogar zornigem Grummeln in den eigenen Parteireihen, und einer zu Kadavergehorsam und Selbstjustiz mystifizierten „Parteidisziplin“ vollbringen mußten. Wahlchef Egon Krenz dagegen flüchtete sich schlicht in Arroganz und Gedächtnislücken.

Für den Unterhaltungswert des gut besuchten Prozesses gebührt Krenz ein Verdienst. Ihm gelang es erstmals, den Richter mit seinen Äußerungen aus der Ruhe zu bringen. „Vorauseilender Gehorsam“ sei an dem Wahlschwindel Schuld gewesen. „Falsch verstandener Wettbewerb“ zwischen den Kreisen habe zu dem „überraschenden“ Ergebnis geführt, das Krenz, von Zweifeln sichtlich geplagt, dem wartenden Staatsvolk übers Fernsehen mitteilen mußte. Selbstredend nagten die Zweifel nicht so tief, daß jemand nachträglich bei Honecker deswegen vorstellig geworden wäre.

Krenz präsentierte dem Gericht einen Brief vom 15.April 1989, der gleich das ganze Politbüro entlasten sollte. Denn in diesem Schreiben an Honecker bat er, keine „Zielangaben“ an die Bezirke zu geben. Und weil der Generalsekretär darunter sein „Ho“ gesetzt und die Partei immer recht hatte, muß es doch auch so gewesen sein.

Doch zu diesem Zeitpunkt waren die Wahlen längst gelaufen. Mit der 7. Tagung des SED-Zentralkomitees war vorher die „Linie“ für die politische Vorbereitung des 40. DDR-Jahrestages ausgegeben worden. Und die lief auf „Erfolge wie nie zuvor“ hinaus. Das Drehbuch sah vor, daß alle SED-Kollektive im Kaffeesatz der Tagung lasen und die „richtigen Schlußfolgerungen“ zogen.

Für das Verständnis der Wahlmanipulation ist aber bsonders der „Brigadeeinsatz“ des SED-Zentralkomitees in Dresden aufschlußreich. „Wir werden euch an den Ergebnissen der Wahlen messen.“ Diese Drohung richtete am 28.Februar 1989 Günther Mittag im Politbüro an die Adresse Modrow. Dresdener Spitzenfunktionären war damals klar: „Wahltag ist Zahltag“.

So bewertete auch Staatsanwalt Günthel in seinem Plädoyer die besondere Situation Dresdens vor den Kommunalwahlen.

Nach Krenzens Aussage trat Mittag eine „Untersuchung“ los, an der mehr als 100 ZK-Funktionäre teilnahmen: als Intrige gegen Modrow, den er als Gorbatschow-Freund denunzierte, und gegen Stoph, der im ZK für Dresden zuständig war. Die Genossen hatten die Aufgabe, nachzuweisen, daß die vielen Mißstände, die jüngst von der Elbe an die Spree gemeldet wurden, auf Defizite in der „politisch-ideologischen Arbeit“ zurückzuführen seien. Der „Brigadeeinsatz“ und dessen landesweite „Auswertung“ formulierten das ganze Programm zur Fälschung dieser Wahlen und aller noch zu schreibenden Berichte. Sie peitschten die „Parteilinie“ gegen jede noch so zaghafte Perestroika-Annäherung durch.

Ein Signal für weitere, die politische Geschichte der DDR betreffenden Strafprozesse dürfte die von der Anklage geforderte einjährige Freiheitsstrafe auf Bewährung wie auch der von der Verteidigung geforderte Freispruch setzen. Otto Schily, SPD-Bundestagsabgeordneter und prominenter Verteidiger Berghofers, hielt mit seinem Plädoyer eine politische Rede. Anders als die Verteidiger Mokes hatte Schily darauf verzichtet, mit formalen Einwänden den Prozeß aus der Welt zu schaffen. Schilys bohrende und manchmal sarkastische Fragen, in denen er immer wieder das verlogene System des „demokratischen Zentralismus“ geißelte, hätten seine Kritiker, besonders in der sächsischen Sozialdemokratie, eigentlich verstummen lassen müssen.

Die warfen ihrem Parteifreund aber immer wieder politische „Instinktlosigkeit“ vor. Als er davor warnte, mit dem Urteil in die „gefährliche Nähe eines gesunden Volksempfindens“ zu geraten, sprach er nicht zuletzt die mutigen BürgerInnengruppen und WählerInnen an, die damals dem Dresdner Wahlbetrug entschieden entgegengetreten sind.

Es ist absurd zu glauben, ein in Dresden unterbliebener Wahlbetrug wäre als „Signal für Widerstand“ aus dem Überwachungsdickicht des Systems herausgelassen worden. Die Einheitspartei war nicht abwählbar. Und die Mutigen, die damals trotz Repression und Manipulation Widerstand gegen diese Wahlen leisteten, erfahren nicht dadurch Gerechtigkeit, daß die Wahl-Farce nachträglich legitimiert wird, etwa als ein demokratischer Vorgang, der gegen kleine und große Gauner anfällig war.

Das Signal setzte, Hohn der Geschichte, die SED selber, als sie, instinktlos wie sie war, mit dieser Manipulation der Lüge die Krone aufsetzte. Diesen Mechanismus offengelegt zu haben, ist das wichtigste Ergebnis des Prozesses.